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Menschenkinder

Menschenkinder

Titel: Menschenkinder
Autoren: Herbert Renz-Polster
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Unterstützung durch seine Erwachsenen angewiesen – und das immerhin etwa ein Viertel seines Lebens lang!
    Und genau das ist der Grund, warum es die Mutter allein mit ihrem Nachwuchs niemals schaffen kann. Sobald ihr Neugeborenes auch nur die Augen auftut, nimmt es schon zwei Hände in Beschlag: zum Tragen, zum Stillen, zum Beruhigen. Und wenn es dann einmal aus dem Gröbsten raus ist, rundet sich garantiert wieder der Bauch der Mutter – auch das ein evolutionärer Sonderweg der menschlichen Art. Bei den allermeisten Säugetieren nämlich stellt sich weiterer Nachwuchs erst dann ein, wenn das vorige Kind selbstständig geworden ist.
    Das kooperative Aufzuchtmodell
    Damit stehen wir vor einer extrem schweißtreibenden Tatsache. Das Menschenkind ist das »teuerste«, das bedürftigste aller Lebewesen! Ein zuckersüßer Pflegefall. Wenig verwunderlich, dass Biologen den Menschen zu den »kooperativ« oder »kommunal« aufziehenden Arten rechnen, also zu den Arten, bei denen der Nachwuchs nicht nur von den eigenen Eltern, sondern auch von weiteren Helfern mitversorgt wird – in diese Kategorie fallen etwa drei Prozent der Säugetiere, darunter zum Beispiel Wölfe, Wale oder Löwen. Und auch hier ist der Mensch führend.

    Die kooperative Ausrichtung des Menschen in Sachen Kinderaufzucht lässt sich sogar mathematisch nachvollziehen. So hat der Evolutionsbiologe Hillard Kaplan berechnet, dass ein Kind in den ursprünglichen Jäger – und Sammlerkulturen mit etwa 13 Millionen Kilokalorien unterstützt werden musste, um es bis ins Erwachsenenalter zu schaffen – weitaus mehr als Papa und Mama allein hätten beibringen können. Auch das menschliche Bindungssystem ist auf »Helfer an der Wiege« eingestellt – anders als etwa bei Schimpansen oder Gorillas kann sich ein Menschenbaby an mehrere Versorgungspersonen binden, die sich regelmäßig und verlässlich um sein Wohl kümmern. 11
    Wer waren die Helfer üblicherweise? Mit Blick auf die Menschheitsgeschichte stechen da vor allem die Großmütter heraus, und da besonders die Großmütter mütterlicherseits. In vielen Jäger-und Sammlerpopulationen bedeutet die Anwesenheit einer »Mutter-Mutter« ein deutliches Plus im Ernährungszustand der Kleinen. Aber auch ältere Geschwister waren Helfer, und da besonders die Schwestern.
    Auch Nicht-Verwandte halfen bei der Kinderbetreuung. So ist etwa von den Efe in Zentralafrika bekannt, dass die Kleinen von mehreren Frauen gestillt werden, solange die Mutter beim Sammeln abseits des Lagers ist. In manchen Gebieten Mittel – und Südamerikas spielen auch männliche Helfer eine wichtige Rolle. Dort wird angenommen, dass ein Kind aus dem Samen all der Männer entsteht, mit denen die Mutter während der Schwangerschaft Verkehr hatte – diese »sozialen Väter« unterstützen das Kind dann tatsächlich auf seinem Entwicklungsweg. Der polygame Beziehungsstil (der in den meisten menschlichen Kulturen überwiegt und wohl immer überwogen hat) hat durchaus seine praktischen Seiten.
    Und die echten Väter? Die Verhaltensforschung beschreibt viele ursprüngliche Gesellschaften, in denen Männer auch in der direkten Versorgung der Kleinen ihren Mann stehen, bei den tansanischen Hadza etwa, bei den Aka Zentralafrikas oder bei den Kung in der Kalahari. In vielen anderen Stämmen allerdings ist der
männliche Beitrag zur direkten Pflege sehr variabel, was sich schon aus den oft viele Tage oder sogar Wochen anhaltenden Jagdzügen erklärt.
    Das immer wieder gerne genommene Klischee, nach dem die steinzeitliche Mutter mit ihren Kindern in der Höhle saß und darauf wartete, dass ihr Mann leckere Mammutkeulen vorbeibrachte, ist also aus zwei Gründen falsch. Zum einen war die Mutter selbst als Versorgerin tätig – ihr Leben als Sammlerin ging auch mit Kind weiter. Und sie hatte auch beim Hüten der Kinder Helfer.
    Und heute? Da wären die Eltern alleine genauso aufgeschmissen – gäbe es nicht Kindergarten, Schule, ja auch Beikostgläschen, Fertigpizzas, Mikrowelle, Waschmaschinen, die Tagesmutter, die Putzfrau oder auch das Erziehungsgeld, das Kindergeld, das Wohn – oder das Sozialamt. Diese institutionellen und technischen »Ersatzhelfer« sind umso wichtiger geworden, nachdem sich die angestammten Helfer aus Fleisch und Blut nach und nach verabschiedet haben: die Großmütter etwa (sie lebt fünfhundert Kilometer entfernt), die Nachbarn (sind gerade bei der Arbeit), die Freunde (beim Tanzkurs), Tanten, Nichten, Neffen … (alle
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