Menschenkinder
bedenklicher: Selbst das Leistungsprinzip funktioniert nicht mehr. Der Bildungserfolg in Deutschland hängt nicht etwa am stärksten mit Begabung oder mit Anstrengung zusammen – sondern mit der sozialen Herkunft des Schülers. Wer hat, dem wird gegeben. Aber die, die es am meisten brauchten – Schüler aus armen Familien, Schüler aus Einwandererfamilien, Schüler mit Lernproblemen wie etwa einer Lese-Rechtschreib-Schwäche –, profitieren von der Schule am wenigsten. Das ist Sprengstoff für eine Gesellschaft, die sich eigentlich auf das Versprechen der demokratischen Gleichberechtigung gründet.
Die Schule ist im wahrsten Sinn des Wortes zu einem Sozialfall geworden. Will unsere Gesellschaft eine Zukunft haben, dann muss sie integrieren, sie muss soziale Nachteile ausgleichen, und sie muss aufs Leben vorbereiten – selbst wenn der ursprüngliche Geschäftszweck ihres Schulsystems einmal auf Bildung lautete. Schule und kindliche Entwicklung zusammenzudenken ist zu einem gesellschaftlichen Imperativ geworden.
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LÜGEN ÜBER DIE ELTERN — UND ÜBER DAS ELTERNSEIN
Weltwirtschaftsforum Davos 2011. Die Mächtigen und Einflussreichen dieser Welt strömen aus aller Herren Länder in das Alpenstädtchen, um einmal das große Ganze zu beraten. Auf der Tagesordnung steht nichts Geringeres als die Zukunft der Industrienationen. Der Finanzchef der Versicherungsgruppe Allianz, Paul Achleitner, fasst die Aufgabe zusammen: »Wir Deutsche werden immer älter und immer weniger. Um unseren Sozialstaat dauerhaft finanzieren zu können, brauchen wir mehr Kinder, mehr Einwanderer und mehr Frauen, die arbeiten.«
Da könnte man meinen, dass jetzt alles unternommen wird, um den Frauen, Eltern und Familien den Rücken zu stärken, damit sie diese herkulische Aufgabe auch schultern können.
Genau das Gegenteil ist der Fall. Eltern werden systematisch geschwächt .
Heilig und schuldig
Das beginnt schon mit ihrer schizophrenen Rolle in der Gesellschaft. Wenn von Eltern die Rede ist, dann sind sie Heilige. Oder sie stehen am Pranger. Dazwischen gibt es nichts.
Als Karl Theodor zu Guttenberg sich für seine zusammengeklaute Doktorarbeit zu entschuldigen hatte, holte er schnell den Heiligenschein raus – in Form des »jungen Familienvaters«, der er damals war. Man wird ja wohl eine Abkürzung nehmen dürfen, damit man rasch wieder mit den Kindern spielen kann, oder?
Auch die Psychologie glaubt an die große Nummer. »Wenn Sie Ihren Job richtig machen«, so die zentrale Botschaft an die Eltern, »wird ein glückliches und selbstbewusstes Kind dabei herauskommen«, so die britische Psychologin Penelope Leach in einem ihrer Elternratgeber.
Auf der anderen Seite dann der lange Finger – unerbittlich auf die Eltern gerichtet, wenn die empfohlene »Spezialmixtur aus Liebe, Grenzen und erzieherisch wertvollem Spielzeug« eben nicht so richtig funktioniert. Das erste, was ein Angeklagter vor Gericht gefragt wird, ist, wie denn seine Beziehung zur Mutter ausgesehen hat. Auch in der Erziehungsdiskussion sitzen die Eltern bleischwer auf der Anklagebank – sie investierten zu wenig, seien selbst unreif oder benutzten ihre Kinder zur Frustbewältigung, nach dem Motto: »Wenn mich in der Welt schon keiner
liebt, dann muss es wenigstens mein Kind tun«, wie Michael Winterhoff meint.
Zwischen diesen Extremen liegt das echte Leben. Da starten Frauen und Männer mit hohen Idealen in das, was in den Magazinen als das letzte Abenteuer der Menschheit dargestellt wird – die Elternschaft. Und erleben dann nicht selten eine schwere Ernüchterung, manchmal sogar eine Lebenskrise. Hebammen berichten, wie häufig die Familiengründung heute als Zeit der Unsicherheit, der Isolation, ja der Selbstentwertung erlebt wird. Der in den Ratgebern so gut ausgeschilderte Weg ins Familienleben ist in Wirklichkeit oft mit negativen Geburtserfahrungen, Stillproblemen, Wochenbettdepressionen und Selbstzweifeln gepflastert.
Das schreit aus evolutionärer Sicht nach einer Erklärung. In dieser Lebensphase, in der es ein komplett abhängiges Lebewesen zu versorgen gilt, braucht eine Mutter ihre ganze Kraft. Als Zeit für Lebenskrisen kann die Familiengründung nicht gedacht sein.
Warum ist der Übergang dann heute so schwierig?
Mythos Intuition
Die Erwartungen sind unrealistisch. Unser Mutterbild beruht auf einer kulturellen Lüge: Frauen seien geborene Mütter – ohne Wenn und Aber. Was es braucht, um ein Kind zu versorgen, das trügen Frauen (die Männer
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