Menschenopfer - Gibert, M: Menschenopfer
Gebäude nicht. Hain schob die Tür nach vorn und betrat den muffig riechenden Hausflur. Links neben der Tür standen zwei verrostete Fahrräder, drapiert von mehreren gelben Säcken, die ganz offensichtlich schon länger dem Abtransport harrten. Rechts gab es eine Reihe kleiner, metallener und jeweils mit vielen Namen bekritzelter Briefkästen. Die Türen der meisten waren aufgebrochen und standen offen oder waren im unteren Teil aufgebogen, sodass man den Inhalt ohne große Mühe herausgreifen konnte.
»Nett hier«, meinte Lenz leise und folgte seinem Kollegen die fünf Stufen hinauf, wo in einer halb geöffneten Tür auf der linken Seite das kreisrunde, aufgedunsene Gesicht einer etwa 60-jährigen Frau in Schlabberpulli und Jogginghose zu erkennen war. Sie klimperte unsicher mit den Augen und hatte offensichtlich Gleichgewichtsprobleme.
»Wollen Sie zu mir?«, fragte sie ungläubig.
»Ja …, nein …, nicht direkt«, stotterte Hain ihr entgegen.
»Und warum schellen Sie dann bei mir?«
Nun waren die beiden Polizisten auf dem Absatz der ersten Etage angekommen und so nah an die Frau herangetreten, dass ihre üble Alkoholfahne sie komplett einnebelte.
»Wir suchen jemand«, übernahm Lenz die weitere Gesprächsführung.
Die Frau rülpste laut und sonderte einen noch intensiver stinkenden Alkoholdunst aus, was zur Folge hatte, dass sich, unabhängig voneinander, sowohl Lenz als auch Hain augenblicklich dafür verfluchten, mit ihren Ermittlungen nicht bis zum nächsten Morgen gewartet zu haben.
»Und wer soll das sein?«
»Ja, Frau …?«
Sie beugte sich ein wenig nach vorn, drehte den Oberkörper zur Seite und deutete auf das verblichene, im Dämmerlicht des Treppenhauses nicht zu erkennende Schild neben der Tür.
»Ambrosini. Berta Ambrosini.«
»Hmm«, machte Lenz genießerisch, »das klingt aber sehr italienisch.«
»Mein Mann war Italiener. Bruno. Bruno Ambrosini.«
Sie machte ein trauriges Gesicht.
»Ist aber schon lange tot, mein Topolino. Das heißt Mäuschen«, setzte sie erklärend hinzu, nachdem sie die fragenden Gesichter der Polizisten wahrgenommen hatte.
»Das tut mir leid, Frau Ambrosini«, machte Lenz auf mitfühlend. »Aber wir sind auf der Suche nach zwei Brüdern. Sie heißen Eberhardt, Fritz und Ottmar Eberhardt.«
»Die Ebis«, hellte ihr Gesicht sich innerhalb von Sekundenbruchteilen auf. »Die haben hier gewohnt, ja. Aber sie sind ausgezogen.«
»Wann war das?«
»Mir war das nicht recht«, fuhr sie fort, ohne auf die Frage des Polizisten einzugehen, »dass sie ausgezogen sind, wissen Sie. Ich hätte es lieber gehabt, wenn sie hier wohnen geblieben wären. Weil die beiden immer dafür gesorgt haben, dass hier alles funktioniert und geklappt hat. Bei denen hat sich keiner getraut, das Maul aufzureißen.«
»Na, das ist wirklich prima, wenn man solche Leute im Haus hat«, stimmte Hain ihr zu, trat todesverachtend einen Schritt näher an die Frau heran und näherte sich mit verschwörerischem Gesichtsausdruck ihrem rechten Ohr.
»Wir …«, er sah sich um, als wolle er ausschließen, dass ein Dritter das zu hören bekommen würde, was er zu sagen hatte, »kommen von der Lottozentrale, müssen Sie wissen. Der Lottozentrale in Wiesbaden. Mehr darf ich Ihnen aber leider nicht verraten, Frau Ambrosini.«
Während Lenz seinen Kollegen mit einem höchst irritierten Blick bedachte, schlug die Frau sich die rechte Hand vor den Mund und riss die Augen auf.
»Die Ebis sind weg von der Armut?«, lallte sie.
Hain legte einen Zeigefinger an seine Lippen.
»Bitte, nicht so laut. Wir dürfen, wie ich erwähnt habe, nicht mehr dazu sagen, das verbietet uns die Diskretion, aber ich kann Ihnen versichern, dass Ihre Vermutung ganz, ganz nah bei der Wahrheit liegt.«
»Das ist ja irre«, stieß sie aus. »Und ich hab nicht mal gewusst, dass die beiden überhaupt spielen. Mein Bruno hat Zeit seines Lebens jeden Samstag getippt, aber mehr als ab und zu drei Richtige sind nie dabei rausgekommen. Nicht einmal vier oder gar fünf. Und jetzt haben die Ebis …!«
Sie brach ab und imitierte Hains Geste mit dem Zeigefinger vor den Lippen.
»Pssst. Diskertion«, flüsterte sie.
»Ja, Diskretion ist in unserem Beruf das A und O«, erklärte Hain mit deutlicher, verbessernder Betonung auf dem zweiten Wort seines Satzes. »Aber wenn wir die beiden nicht finden, verfällt am Ende der schöne Gewinn, und das ganze Geld geht in den hessischen Landeshaushalt. Damit wäre doch nun niemandem gedient, und
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