Menschenopfer - Gibert, M: Menschenopfer
weiteres Blatt hoch, auf dem zwei ausgedruckte, kleine und nicht besonders scharfe Schwarz-Weiß-Porträts zu erkennen waren.
»Wie sie aussehen, falls sie die Tür öffnen, wissen wir ja wenigstens grob.«
»Dann los.«
6
Watane Origawa öffnete leise die Tür zum Schlafzimmer der heruntergekommenen, zugigen Altbauwohnung und betrachtete Shinji Obo, ihren schlafenden Freund. Ruhig und ohne jegliche Hast hob und senkte sich sein Brustkorb.
Wenigstens wirkt das Schlafmittel , dachte sie.
Wenn die junge Frau nicht gewusst hätte, dass er seit mehr als einer Woche über Schwindelgefühle, permanente Übelkeit und bleierne Müdigkeit klagte, wäre ihr nie in den Sinn gekommen, sich um ihn zu sorgen. So allerdings und spätestens, seit er sich am Nachmittag hingelegt hatte, verdichteten sich ihre Befürchtungen, dass er ernsthaft erkrankt sein könnte, von Stunde zu Stunde. Seit er im Bett lag, hatte sie im Internet viele Seiten gelesen, jedoch keine einleuchtende und schlüssige Erklärung für seinen Zustand gefunden.
Vielleicht , ging ihr durch den Kopf, hat er sich wirklich nur einen Virus eingefangen, wie er selbst mutmaßt, und ist nächste Woche wieder völlig auf dem Damm .
Dieser Gedanke löste bei der jungen Frau ein Gefühl von Hoffnung und Zuversicht aus, das jedoch nur ein paar Sekundenbruchteile andauerte, denn niemals zuvor hatte sie ihn so schwach und matt erlebt in den mehr als zwei Jahren, die sie sich nun kannten, wie in den letzten Tagen. Sie schloss die Tür vorsichtig, um kein unnötiges Geräusch zu verursachen, und ging hinüber in die kleine Küche. Dort nahm sie eine alte Kaffeedose aus dem Schrank, setzte sich an den winzigen Tisch, auf dem eine einzelne, kleine Kerze vor sich hin flackerte, öffnete das Blechgefäß und griff hinein. Mit fliegenden Fingern zählte und stapelte sie die hervorgekramten Geldscheine.
1585 Euro.
Sie hatte keine Ahnung, wie weit man mit diesem Betrag als Selbstzahler im deutschen Krankensystem kommen würde; allerdings wusste sie, dass die Summe, in Yen umgerechnet, in ihrem Heimatland Japan nicht für große therapeutische Interventionen reichen würde.
Was, wenn er einen Tumor oder so etwas hat , schoss ihr durch den Kopf. Dann würde er vermutlich nach Japan reisen und dort den überaus steinigen Weg der medizinischen Hilfe für arme Menschen gehen müssen, wobei es keinesfalls als gesichert anzusehen war, dass ihm dadurch auch adäquater Beistand zuteil werden würde. Es gab in Japan mittlerweile so viele Menschen, die alles verloren hatten und von der Fürsorge leben mussten, dass die Sozialsysteme kurz vor dem Kollaps standen. Da wartete man bestimmt nicht auf einen jungen Mann, der nie auch nur einen Yen in die medizinischen Versorgungskassen eingezahlt hatte und jetzt Leistungen, unter Umständen sogar sehr teure Leistungen, haben wollte.
Über Watane Origawas zartes Gesicht lief eine dicke Träne. Sie wischte die Feuchtigkeit mit dem Rücken der rechten Hand ab und wollte nach einem Küchentuch greifen, als das Mobiltelefon ihres Freundes anfing zu summen. Rasch griff sie nach dem Gerät, sah auf das Display und erkannte, dass der Anrufer Herr Kanaya war, sein Boss.
Ein paar Augenblicke lang war sie hin- und hergerissen, ob sie den Anruf entgegennehmen sollte, drückte schließlich jedoch auf die grüne Taste.
»Guten Tag, Herr Kanaya«, sagte sie ehrfürchtig.
»Mit dir will ich nicht reden«, blaffte der Restaurantbesitzer ihr ins Ohr. »Ich will mit Shinji sprechen.«
»Der schläft. Es geht ihm wirklich nicht gut, Herr Kanaya.«
»Ach, es geht dem Herrn mal wieder nicht gut«, paraphrasierte er sarkastisch. »Und was glaubst du, wie es mir geht? Das Restaurant ist voll, und ich weiß nicht, wie ich die Arbeit schaffen soll. Dein Kojote von Freund weiß ganz genau, dass er hier zu erscheinen hat, egal, wie es ihm geht. Sag ihm, dass ich auf ihn warte und er sich nicht so anstellen soll. Wenn er in einer Stunde nicht in der Küche an seinem Arbeitsplatz steht, kann er sich eine neue Beschäftigung suchen. Aber vorher muss er mir das Geld zurückzahlen, das er mir noch schuldet.«
»Herr Kanaya, bitte, das ist unmöglich. Das geht nicht!«
»Willst du kleines Luder mir erklären, was geht und was nicht?«, schrie er sie nun an. »Was glaubst du, dir herausnehmen zu können?«
»Entschuldigung«, hauchte Watane Origawa kleinlaut und eingeschüchtert ins Telefon. »Ich wollte Sie nicht verärgern, Herr Kanaya.«
Es entstand eine kurze
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