Menschenopfer - Gibert, M: Menschenopfer
Pause, während der Kanaya offenbar überlegte.
»Du hast doch auch schon in einer Küche gearbeitet, oder?«
»Ja, das stimmt«, erwiderte sie zögernd, weil es keiner großen Fantasie bedurfte, sich auszumalen, was der Restaurantchef nun verlangen würde.
»Dann kommst du her und arbeitest hier so lange, bis dein nichtsnutziger Freund wieder gesund ist. Vielleicht hilft das sogar, seinen Heilungsprozess ein wenig zu beschleunigen.«
»Aber, Herr Kanaya, bitte, das geht nicht. Ich habe eine Arbeit, bei der ich den ganzen Tag zu tun habe. Wie soll ich das denn schaffen?«
»Was interessiert mich das? Die Liebe verlangt manchmal eben ein paar Opfer. Ich erwarte dich in spätestens einer halben Stunde. Und wage es bloß nicht, mich zu enttäuschen. Ich verfüge über Mittel und Wege, Pack wie euch Beine zu machen.«
Damit knackte es leise in der Leitung, und die Verbindung war beendet.
Watane legte das Telefon zur Seite, schlug die Hände vors Gesicht und fing laut an zu schluchzen.
So saß die junge Frau eine Minute, vielleicht zwei, da und wusste nicht, was sie tun sollte. Wenn sie die Forderung von Herrn Kanaya nicht erfüllen würde, verlor ihr Freund am nächsten Tag mit Sicherheit seinen Job. Aber sie selbst hatte den ganzen Tag in der Großwäscherei gearbeitet, hatte Hunderte Kilo schmutzige Arbeitsklamotten und Tischwäsche sortiert, in die riesigen Maschinen gepackt und nach dem Trocknen und Bügeln gefaltet und eingepackt. Ihre Augen brannten, wie an jedem Abend, von den aggressiven Dämpfen, denen sie den Tag über ausgesetzt war, und ihre Beine waren schwer.
Wie, fragte sie sich, sollte sie es in diesem Zustand schaffen, bis weit nach Mitternacht in der Restaurantküche zu arbeiten und um fünf Uhr wieder aufzustehen?
Ihre Gedanken wurden von einem energischen Klopfen an der Tür jäh unterbrochen. Es war nicht die Form des Klopfens, wenn einer ihrer wenigen Freunde die beiden besuchte, es war ein forderndes, bedrohliches Klopfen. Sie wischte die Feuchtigkeit aus ihrem Gesicht, blies die Kerze aus, erhob sich vorsichtig und betrat auf Zehenspitzen den Flur. Obwohl sie sich bemühte, mehr zu schweben als zu gehen, verursachte ihr leichter Körper auf den alten Dielen leise Knirschgeräusche.
Wieder das donnernde Pochen an der Tür.
Die junge Frau blieb wie angenagelt stehen und traute sich kaum zu atmen.
Oh Gott , dachte sie, hoffentlich wacht Shinji nicht auf .
Erneut hämmerte die Faust gegen das verblichene Türblatt. Watane konnte sehen, wie sich das Holz unter den Schlägen bog und Lack abplatzte. Vorsichtig schlich sie weiter und stand schließlich rechts neben dem Türrahmen. Ihr gesamter Körper zitterte und sie hatte entsetzliche Angst.
Leise Stimmen. Gemurmel. Eine Sprache, die sie nicht kannte. Offenbar sprachen zwei Menschen vor der Tür leise miteinander. Männer. Hektisch schluckend, versuchte sie, einen aufkommenden Hustenreiz zu unterdrücken. Nein, bitte, nicht jetzt! , flehte sie tonlos.
Wieder ein Pochen, dann Ruhe. Mit schreckensgeweiteten Augen nahm sie wahr, dass sich nun die abgewetzte, alte Türklinke nach unten bewegte. Die Frau zwang sich zur Ruhe, weil sie ganz sicher wusste, dass sie beim Hereinkommen hinter sich abgeschlossen hatte, wie immer. Habe ich wirklich den Schlüssel komplett gedreht ?, fuhr es ihr durch den Kopf. Die Klinke senkte sich ein weiteres Stück und erreichte den unteren Anschlag. Watane Origawa drehte sich um, griff lautlos nach ihrem Schirm, der an der Garderobe hing, nahm ihn in beide Hände und hob die Arme mit der improvisierten Waffe über ihren Kopf. Das Türblatt wurde nach vorne gedrückt, bewegte sich ein paar Millimeter und wurde dann von dem Sperrriegel des Schlosses gestoppt.
Ich wusste es, ich hatte abgeschlossen! , jubelte Watane innerlich, jedoch nur für ein paar Sekundenbruchteile. Dann erkannte sie, dass sich das obere Ende der Tür nach innen bog und ihr wurde klar, dass die Männer auf der anderen Seite versuchten, die Tür einfach einzudrücken. Dort, wo der Druck am größten war, entstand ein etwa zwei Zentimeter breiter Spalt, durch den das Licht aus dem Hausflur sichtbar wurde und in dem nun die Klinge eines Messers erschien. Jede Faser an der Frau wollte losschreien, wollte um Hilfe rufen, wollte die Männer am liebsten nur durch infernalisches Brüllen zum Rückzug zwingen, doch sie schaffte es, sich zu beherrschen. Sie stand mit dem Schirm in ihren hoch erhobenen Händen da und war bereit, sich und ihren kranken
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