Menschenopfer - Gibert, M: Menschenopfer
Freund damit zu verteidigen.
Die Klinge wanderte Richtung Türmitte, in Richtung des Schlosses. Kurz, bevor der Stahl sein Ziel erreicht hatte, hörte sie entfernt, aber doch laut genug, fröhliche Stimmen aus dem Hausflur. Deutsche Stimmen. Kinder. Vermutlich kamen die Nachbarskinder vom Schlittenfahren nach Hause. Die Klinge verschwand, die Tür fiel in ihre angestammte Position, dann das sich schnell entfernende Geklapper von Schuhen. Die Kinderstimmen wurden lauter, danach verstummten sie kurz, nahmen dann jedoch wieder an Intensität zu. Mit unglaublicher Erleichterung hörte Watane Origawa zu, hörte auf das Plappern und das vergnügte Quietschen, bis ihr auffiel, dass sie noch immer mit dem Schirm über dem Kopf dastand. Zitternd ließ sie die Arme fallen, sank zu Boden, und fing hemmungslos an zu weinen.
Die junge Frau hatte keine Vorstellung, wie lange sie in der nahezu vollständigen Dunkelheit des Flures gesessen hatte, als sie sich langsam erhob. Ihre Augen brannten wie Feuer, ihre Beine zitterten, und die Hände schmerzten von dem krampfartigen Griff um den Stiel des Schirmes. Sie ging zurück in die Küche, traute sich jedoch nicht, das Licht einzuschalten. Im diffusen Schimmern der Straßenbeleuchtung, die durchs Fenster fiel, kramte sie die Geldscheine, die noch immer auf dem Tisch lagen, zusammen und steckte sie hastig zurück in die Kaffeedose. Dann setzte sie sich und dachte darüber nach, was gerade geschehen war.
Hatte Herr Kanaya die Männer geschickt?
Sie wusste es nicht. Und sie konnte ihre Gedanken auch nicht so weit strukturieren, dass ihr ernsthafte Überlegungen möglich gewesen wären. Sie wusste nur, dass sie sich sofort umziehen musste, um in den ›Tokyo Temple‹ zu fahren und die Arbeit ihres Freundes zu erledigen, damit der nicht morgen oder in der nächsten Woche, falls sich sein Zustand bessern sollte, ohne Job dastehen würde. Wieder und wieder suchte sie während des Kleidungstauschs nach einer Möglichkeit vorzubeugen, falls die Männer, die vorhin in die Wohnung eindringen wollten, zurückkehren würden, doch es fiel ihr nichts ein. Sie musste ihren Freund alleine zurücklassen und hoffen, dass ihm während ihrer Abwesenheit nichts passieren würde.
Zwei Minuten danach schlüpfte Watane Origawa zögernd, immer wieder nach links und nach rechts schauend, durch die Haustür des alten Backsteinhauses im Kasseler Westen, stieg auf ihr Fahrrad und machte sich auf den Weg in die Innenstadt.
7
Die beiden Polizisten mussten lange suchen, bis sie die Sandershäuser Straße 18 gefunden hatten. Das Gebäude lag im Hinterhof einer ehemaligen Industrieansiedlung, und eine durchgängige Nummerierung gab es wohl schon länger nicht mehr in der Straße. Sie stiegen aus Hains schickem japanischem Kombi, den er sich nach der Geburt seiner beiden Kinder zugelegt hatte, und sahen an der Fassade des Hauses nach oben. Vier Stockwerke, bröckelnder Putz und jede Menge Satellitenschüsseln. Immerhin aber neue Fenster. »Schöne Wohngegend«, murmelte Hain und stapfte auf dem mit platt getretenem Schnee bedeckten Gehweg Richtung Tür. Lenz folgte ihm schweigend. Der Oberkommissar drückte auf den Lichtschalter, und zu seinem großen Erstaunen setzte eine Energiesparlampe über ihren Köpfen sofort so etwas wie Licht frei, das in den nächsten Sekunden zumindest so stark wurde, dass sie die Namen auf den Klingelschildern erkennen konnten.
»Fehlanzeige«, erklärte Hain, nachdem er die etwa 15 in den buntesten Farben beschrifteten Felder zweimal durchgegangen war.
»Hier wohnt niemand mit dem Namen Eberhardt.«
»Oder er will nicht, dass jemand weiß, dass er hier wohnt.«
»Auch möglich. Allerdings bin ich heute Abend wirklich nicht mehr in der Stimmung für eine Schnitzeljagd. Komm, lass uns verschwinden und morgen früh wiederkommen.«
»Was das Risiko birgt, dass alle Bewohner bei der Arbeit sind und wir niemanden erwischen.«
Der Hauptkommissar sah erneut an der Fassade nach oben, wo hinter einigen Fenstern Licht zu erkennen war.
»Jetzt hingegen hätten wir die Chance, jemanden anzutreffen und ihn nach seinen Mitbewohnern auszufragen.«
»Verdammt noch mal!«, fluchte Hain und bewegte seinen rechten Zeigefinger nach vorn, in Richtung der untersten rechten Klingel. »Ich hasse dich, wenn du mich mit so guten Argumenten überzeugst.«
Ein paar Sekunden, nachdem der Polizist geklingelt hatte, ertönte das satte Brummen des Türöffners. Eine Gegensprechanlage gab es in dem
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