Menschenskinder
Übernachten in die Kühlkammer bringen müsse, sollte man vorsichtshalber eine Qualitätsprüfung vornehmen. Das hatte klarerweise etwas länger gedauert, schon wegen der parallel laufenden Weinprobe, und danach hatte Rolf keinen Hunger mehr gehabt.
Während ich die Spülmaschine voll stopfte, klingelte mal wieder der Knochen, und als ich ihn endlich auf der Dunstabzugshaube gefunden hatte – wie war er da bloß hingekommen? –, hatte der Teilnehmer bereits aufgelegt. Auch gut, ich brauchte jetzt endlich eine Tasse Kaffee, einen Sessel und Ohropax, damit ich eine Viertelstunde lang meine Ruhe hatte. War aber nicht möglich. Den Kaffee kriegte ich noch hin, die Stöpsel nicht mehr. Steffi rief an und erkundigte sich, was man denn zu einem Polterabend anziehe.
»Alles außer Bikini und Nachthemd«, gähnte ich in den Apparat, »was hast du denn an deinem eigenen angehabt?«
»Das gilt nicht, da war ich ja die Braut, diesmal bin ich bloß Verwandtschaft.«
»Eben! Und deshalb wirst du etwas Unauffälliges tragen und deine Schwester brillieren lassen.«
»Das dürfte nicht schwer sein, Nicki kommt doch bestimmt wieder im Mini.«
»Kann sie sich ja auch leisten.«
»Im Gegensatz zu mir, wolltest du doch sagen, oder nicht?«
»Da ich dich zum letzten Mal am Tag deiner Einschulung im Rock gesehen habe, kann ich beim besten Willen nicht beurteilen, wie dir ein Kleidungsstück stehen würde, das keine zwei Hosenbeine hat.«
»Überhaupt nicht, das isses ja! Ich möchte bloß mal wissen, wer diese dämliche Mini-Mode erfunden hat.«
»Wahrscheinlich ein unbekannter Schotte mit zehn Töchtern.«
Nachdem sie sich vergewissert hatte, dass Jeans durchaus angebracht seien, da vermutlich resistent gegen mögliche Holzsplitter von Bierbänken, wünschte mir Steffi eine gute Nacht und legte auf. Schön wär’s ja, es hätte mir überhaupt nichts ausgemacht, auch mal um halb Acht schlafen zu gehen, schon gar nicht im Hinblick auf morgen.
Zehn Minuten später hing Sascha an der Strippe und teilte mir mit, dass weder er noch Nastassja noch überhaupt jemand aus der Familie kommen könne.
»Und warum nicht?«
»Nastassja ist krank, die Mädchen sind’s beinahe, und ich bereite mich gerade darauf vor.«
»Ist es das, was man unter Teamwork versteht?«
»Darüber lache ich, wenn’s mir wieder besser geht, ja?«, klang es resignierend. »Früher ging man zum Arzt, wenn man sich nicht wohl fühlte, oder? Heute muss man doch erst mal wissen, warum man sich nicht wohl fühlt, sonst hat man keine Ahnung, was für einen Arzt man braucht.«
»Stimmt!«, musste ich zugeben. »Aber hast du denn wenigstens eins gefunden?«
Zehn Sekunden Pause. »Was gefunden?«
»Das zu den Symptomen passende Leiden. Eine der am meisten verbreiteten Krankheiten ist übrigens die Diagnose, wusstest du das?« Nein, es schien ihm wirklich nicht gut zu gehen. Normalerweise hätte ich eine flapsige Antwort bekommen, stattdessen kam nur ein »Mir ist jetzt nicht nach blöden Witzen zu Mute! Sag bitte Nicki Bescheid, ich hätte sie ja selber angerufen, weiß bloß nicht, wo ich ihre Nummer vergraben habe. Schöne Grüße an alle und viel Spaß morgen.«
»Ich geb’s weiter. Erst mal gute Besserung und …«
Klick – er hatte bereits aufgelegt. Na, hoffentlich würden er und sein Clan wenigstens zur Hochzeit wieder auf dem Damm sein. Wie lange dauert wohl eine Krankheit, bei der man nicht weiß, was es ist?
In unseren Breitengraden beginnt der kalendarische Sommer immer dann, wenn es erst mal wieder kalt wird. Früher muss das aber auch schon so gewesen sein, denn ich kann mich noch gut daran erinnern, wie meine Großmutter einmal in der ganzen Nachbarschaft Briketts zusammengebettelt hatte, weil sie ihren Geburtstagsgästen – vornehmlich den älteren Jahrgängen des Königin-Luise-Bundes – nicht zumuten wollte, in Hut und Mantel an der Kaffeetafel zu sitzen und die falsche Buttercremetorte mit Glacehandschuhen zu gabeln. Es war nämlich Krieg, die Kohlenzuteilung längst verbraucht, eine neue würde es erst im Herbst geben, denn die amtlich genehmigte Heizperiode endete am letzten Apriltag. Wer also an einem 19. Juni noch den Kachelofen füttern konnte, war entweder den Winter über sehr sparsam gewesen oder hatte Beziehungen. Omi war und hatte beides nicht, aber Frau Brüning aus dem Nebenhaus besaß noch einen kleinen Vorrat an Briketts, weil sie den ganzen November über bei ihrer Schwester in Thüringen gewesen war. Das Anmachholz
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