Menschenskinder
gekriegt, Steffi, und nicht im Juni.« Hannes gehört auch zu den Menschen, die selten frieren. »Da ergingen sie sich nämlich im Freien.«
»Sie machten was?«
»Sie ergingen sich«, wiederholte er lachend. »Als Kind habe ich mit Vorliebe Rittergeschichten gelesen, ›Ivanhoe‹ zum Beispiel, und darin ergingen sich die edlen Damen in der Abendkühle auf dem Burghof. Natürlich schien immer der Mond, und deshalb warf der Wehrturm ja auch gigantische Schatten«, er sprach die beiden letzten Wörter mit Nachdruck aus, »an die steinerne Brüstung. Ich hab erst im Lexikon nachsehen müssen, was gigantisch überhaupt heißt.«
Nein, jetzt bloß keine Diskussion über gesundheitliche Probleme im Mittelalter, mir reichten die der Gegenwart. Sascha hatte nämlich abgesagt. Er fühle sich immer noch wie durch die Mangel gedreht, hatte er am Telefon gejammert, außerdem hätten die Mädchen schon lange genug die Schule versäumt, ein weiterer Tag so kurz vor der Versetzung sei einfach nicht drin, zumal Sunny die für Freitag anberaumte Physikarbeit auf jeden Fall mitschreiben müsse, das Brautpaar habe sicher Verständnis dafür, und das Geschenk sei unterwegs.
»Vier Essen gespart!« Nicole ist schon immer die Pragmatikerin in unserer Familie gewesen, aber bedauert hatte sie die Absage natürlich doch. »Er wird mir fehlen, obwohl ich ihm ja bis heute nicht verziehen habe, dass er damals meinen Teddy mit einer Silvesterrakete im Bauch aus dem Fenster geschmissen hat.«
»Ich schlage vor, wir gehen jetzt schlafen und entscheiden morgen früh, was wir anziehen.«
Erstens war es kurz vor elf Uhr, und zweitens hatte ich für Ritter sowieso nichts mehr übrig. Daran sind der KöniginLuise-Bund schuld und die Kränzchennachmittage. Omi war bekanntlich aktives Mitglied gewesen, hat meines Wissens keinen einzigen Kaffeeklatsch versäumt, nicht mal, als sie am Morgen vor einem solchen einen Hexenschuss bekommen hatte; das alles wäre gar nicht erwähnenswert, hätte ich nicht jedes Mal mitgemusst. Sobald die Kuchenschlacht vorbei gewesen war und sich die Damen in das Salon genannte Wohnzimmer zu einem Likörchen zurückgezogen hatten, damit das Mädchen (bei Frau Professor gab es eins) abräumen konnte, wurde ich in eine Ecke gesetzt und bekam die ›Deutschen Heldensagen‹ in die Hand gedrückt, offenbar das einzige vorhandene Buch, das man einer Achtjährigen schon zumuten konnte. Da Omi auch außerhalb der offiziellen Zusammenkünfte mit Frau Professor verkehrte (sie war gar keine richtige, den Titel trug ihr Mann, doch damals war das so üblich, und verbeten hat sie sich diese Anrede nie), war ich zwangsläufig häufiger Gast in ihrer Wohnung und kannte nach einem Jahr nicht nur sämtliche Protagonisten der Nibelungensage, sondern auch ihre Randfiguren. Die Sache mit Brunhilde hatte ich seinerzeit aber doch nicht so richtig verstanden, denn die hatte ja den Siegfried gewollt, weil der ihr im Kampf den Gürtel entrissen hatte (?), musste dann aber den Gunther nehmen, dabei war der doch viel mehr als Siegfried gewesen, nämlich König. Dafür kriegte Siegfried diese grottendämliche Kriemhild, die auf seine Hemden Kreuzchen stickte, damit Hagen ihn später an der richtigen Stelle meuchelmorden konnte. Ob sie sich ebenfalls auf dem Burghof ergangen hat, weiß ich aber nicht mehr.
Womit wieder einmal bewiesen wäre, dass Lesen bildet und man gar nicht früh genug damit anfangen kann! Wenn Steffi im Urlaub mal wieder über einem Kreuzworträtsel brütet und eine Nibelungenfigur sucht, kann ich immer helfen. Meistens ist es ja Ute. Oder Gernot.
Mein erster Blick am nächsten Morgen galt dem Wetter. Der zweite, nach der Dusche, auch noch, erst dann hängte ich den hellen Hosenanzug in den Schrank zurück und zog den dunkelblauen heraus, der wärmer war.
»Was hat Sven eigentlich für einen Blödsinn erzählt, von wegen heute schönes Wetter und siebzehn Grad? Wir können schon froh sein, wenn aus dem Regen nicht noch Schnee wird. Bist du noch immer nicht fertig? Lass mich wenigstens mal aufs Klo!« Steffi schob mich aus dem Bad. »Haare föhnen kannst du auch draußen!«
»Da ist doch keine Steckdo …« Oh, glückliches Amerika, wo – sofern man Metro Goldwyn Mayer trauen kann – jedes Haus mindestens drei Gästezimmer hat. Und zu jedem gehört ein eigenes Bad. Wir haben aber bloß eins, und das ist einfach zu wenig, wenn fünf Leute zur gleichen Zeit hineinwollen. Kommt ja nicht oft vor, aber es ist auch nicht jeden
Weitere Kostenlose Bücher