Menschenskinder
Bademanteltasche hatte und sich jedes Mal absonderte, sobald sie die Kopfhörer aufsetzte.
»Wahrscheinlich hört sie Modern Talking oder Julio Iglesias und will nicht, dass es jemand mitkriegt«, hatte Lilo vermutet, die allerdings auch den halben Tag mit Knopf im Ohr herumlief. Das hätte ja niemanden gestört, wenn sie dabei wenigstens den Mund gehalten hätte, aber nein, oft genug sang sie lauthals mit, und zeitweise hatten wir sogar erwogen, sie mit einem Knebel im Mund an den nächsten Baum zu binden; mit dieser Methode hatten bekanntlich die Gallier ihren Troubadix zum Schweigen gebracht.
Endlich war das Essen vorbei, und wir hörten erstaunt, wie sich Conny von ihren beiden Tischnachbarinnen verabschiedete. »Wir sehen uns ja bestimmt nachher noch, oder nicht?«
Doppeltes Nicken, Spurt in die ›Lobby‹ zum großen Fernseher, »nur wegen der Nachrichten«, wie Tantchen versicherte, »man muss doch auf dem Laufenden bleiben.«
»Stimmt es eigentlich, dass der Rotbarsch ausstirbt?«, rief Lilo hinterher, doch das hatte Tantchen schon nicht mehr gehört.
»Roswitha will dich hoffentlich nicht offiziell in das Unterhaus einführen«, empfing Moni ihre Freundin, »oder wie sonst ist deine Bemerkung zu verstehen, ihr würdet euch nachher noch sehen?«
»Wenn der ganze Tross raufkommt, lässt sich das wohl kaum vermeiden.« Conny sah uns der Reihe nach an. »Oder habt ihr das heutige Abendprogramm vergessen?«
Tatsächlich, das hatten wir! Dabei würden wir doch endlich erfahren, welcher Frauentyp wir sind, also Vamp, Hausmütterchen oder Karrierefrau, selbstbewusst mit Durchsetzungsvermögen oder verschüchtert wie Roswitha, die vor ihrem Mann kuscht und am liebsten in einer Ecke sitzt, wo sie auf zwei Seiten von einer Wand geschützt wird. ›Typenberatung‹ nannte sich die Veranstaltung, und durchgeführt wurde sie von einer Stylistin, was immer man sich darunter auch vorzustellen hatte.
Sie saß auch schon im Kaminzimmer, trank Tee (echten!) und rauchte, was natürlich verpönt, nichtsdestotrotz gestattet war, allerdings nur in diesem Raum beziehungsweise im Park, wo jene schweigsame Dame mit dem Walkman in der einen Hand und einer Zigarette in der anderen schon wieder ihre Runden drehte. »Vielleicht muss sie zu Hause immer auf’n Balkon«, mutmaßte Steffi, »und jetzt schmeckt ihr der Glimmstängel bloß noch an der frischen Luft.«
Nach und nach trudelten die Bewohner des Unterhauses ein, diesmal nicht in Chiffon und Taft, sondern sportlich-leger oder in dem, was Damen der gehobeneren Einkommensklasse darunter verstehen. Tantchen trug eine Art Hausanzug aus grün-goldenem Samt, Roswitha ebenfalls, nur bestand der aus grauem Frottee und sah genauso aus. Die Barbie-Puppe erschien in weißer Seide, die übrigen, meist älteren Damen gaben sich einem ungeschriebenen Gesetz entsprechend gedeckt, dunkelblau war am meisten vertreten, passte auch am besten zum Goldschmuck, auf den selbst hier, wo wir doch ganz entre nous waren, niemand verzichten wollte.
Als Letzte erschien Amelie, wieder im Mini, wieder hoch bestöckelt, unterm Arm einen Packen Glänzendes. »Guten Abend, meine Damen, wie ich sehe, sind Sie vollzählig versammelt, und unsere Frau von Halder ist auch schon da. Deshalb schlage ich vor, wir fangen gleich an. Wenn ich Sie also in den Salon bitten darf …«
Der Salon war ein nahezu quadratischer Raum, in dem zwei schon leicht ramponierte Sofas standen, mehrere Tische und Sessel aus verschiedenen Stilepochen, die letzte musste die gleich nach der Nierentisch-Ära gewesen sein, sowie ein Sortiment Stühle der Kategorie ›fürs Wohnzimmer schon zu abgesessen, aber noch zu schade für den Sperrmüll‹. Mittelpunkt des Salons war ein Schminktisch mit großem Spiegel, davor ein weinrotes, goldverziertes Sesselchen, wohl ehemals dem nächstgelegenen Stadttheater gehörend und bei der letzten Inventur ausgemustert.
Wir verteilten uns auf die vorhandenen Sitzgelegenheiten, wurden jedoch wieder hochgescheucht, weil wir zusammenrücken und uns mit Blickrichtung Schminktisch niederlassen sollten. Frau von Halder, wegen ihrer markanten Gesichtszüge von Renate sofort in das Pferd umbenannt, erklärte uns auch, warum. »Ich werde jetzt jede einzelne Dame hier vor den Spiegel bitten, ihre Haare abdecken und ihren Oberkörper abwechselnd in Gold- beziehungsweise Silberlame hüllen. Dann werden wir zusammen abstimmen, welcher Stoff ihr am besten steht. Auf diese Weise ermitteln wir nämlich, wer von
Weitere Kostenlose Bücher