Menschenskinder
Vorausgesetzt, die Sonne schien. Im Sommer scheint sie relativ häufig, sogar sonntags, und so bin ich manches Mal, während die restliche Sippe noch schlief, auf dem Wanderweg Nr. 1 durch den Wald getrabt. Er führt runter zum See mit seinen vollgefressenen Karpfen, umrundet ihn zur Hälfte, gabelt sich, und wenn man die falsche Abzweigung erwischt, kommt man erst am Friedhof wieder raus. Ich hatte die falsche genommen und wäre nach wenigen Schritten beinahe über Otto gestolpert, der plötzlich stehen geblieben war, seine Haare hochstellte und zu knurren anfing. Und dann sah ich es auch: Auf einer kleinen Lichtung stand ein Wesen mit langen blonden Haaren und überhaupt nichts an. Das Gesicht zur Sonne gewandt, schien es in einen rituellen Tanz versunken. Es bewegte sich wie in Zeitlupe, hob mit fließenden Bewegungen langsam die Arme, malte mit den Händen geheimnisvolle Zeichen in die Luft, trat einen Schritt vor, dann einen zweiten, senkte den Kopf, reichte einem imaginären Gegenüber eine nicht vorhandene Schale … wer immer diese junge Frau sein mochte, irgendetwas konnte mit ihr nicht stimmen. Und der See bloß um die Ecke, zwar nicht sehr tief, aber Selbstmörder ertrinken ja auch in der Badewanne. Und sooo weit weg ist das Psychiatrische Landeskrankenhaus gar nicht, erst neulich hatte man einen geistig verwirrten Mann am Ortseingang aufgegriffen. Wie er dorthin gekommen war, hatte er nicht erklären können.
Das Normalste wäre natürlich gewesen, die Frau anzusprechen, guten Morgen zu sagen oder Sie sind ja schon richtig fleißig … na, Letzteres hätte vielleicht doch etwas dämlich geklungen, aber ich hab’s ja sowieso nicht getan, sondern Otto die Schnauze zugehalten, bevor er doch angefangen hätte zu bellen, und bin leise weitergegangen.
Zu Hause habe ich natürlich von dieser merkwürdigen Frau erzählt und von meinem Verdacht, es müsse sich bei ihr um jemanden mit einem mittelschweren Dachschaden handeln. »Ich habe schon überlegt, ob ich nicht die Polizei anrufen soll. Was meint ihr? Wenn die Frau sich was antut, würde ich mir das nie verzeihen.«
»Aber wenn du dich lächerlich machst, würdest du das uns nicht verzeihen!«, hatte Nicole gesagt. »Deine Selbstmörderin hat wahrscheinlich Tai-Chi geübt. Sieht ja wirklich ein bisschen albern aus«, musste sie zugeben, »soll aber zur Selbstbesinnung führen und wie alles Asiatische der körperlichen oder geistigen Gesundheit dienen.«
»Und warum muss man dazu in den Wald? Das geht doch zu Hause auf dem Balkon oder im Garten genauso gut.«
Das wusste Nicki auch nicht. »Vielleicht, weil sonst die ganzen Nachbarn zugucken.«
Und nun also die fünf Tibeter, die keinen Namen hatten und uns morgen früh helfen sollten, den Tag froh und munter zu beginnen. Heute hätte es die Wassergymnastik sein sollen. Wir waren sogar fast vollzählig angetreten, hatten uns zähneklappernd in den nicht gerade warmen Pool gestürzt und waren gemäß Tanjas Weisungen vierzig Meter geschwommen (zweimal zehn Meter hin und zweimal zehn Meter zurück). Sie selbst hatte es vorgezogen, am Beckenrand stehen zu bleiben, wo es wärmer war.
Nun hatten wir zwei Kreise bilden sollen, uns an den Händen fassen, auf die Zehenspitzen stellen (wer unter 1,65 m groß war bekam ernsthafte Schwierigkeiten), im Kreis herumhüpfen, auf den Rücken legen, wieder ein bisschen hüpfen … es war so albern gewesen und hatte mit Gymnastik nicht das Geringste zu tun gehabt, sondern nur bewirkt, dass wir angefangen hatten zu frieren.
»Ob ich einen Krampf simuliere und mal eben ein bisschen absaufe?«, hatte Conny überlegt. »Ich möchte zu gern wissen, ob die dumme Nuss da oben wohl in voller Montur ins Wasser springt, oder ob sie es euch überlässt, mich zu retten.«
Püppi, mit goldflimmernder Badehaube auf den blonden Locken, hatte gejammert, ihr sei kalt, und überhaupt sei das alles hier nicht das, was sie sich vorgestellt habe. »Ich bin schließlich nicht das erste Mal auf einer Beautyfarm. Im vergangenen Herbst war ich in einem entzückenden Club unten im Allgäu, alles nur vom Feinsten. Wir wurden morgens durch Lautsprecher geweckt, auch die Anweisungen für die Morgengymnastik kam über den Lautsprecher, das Frühstück wurde im Zimmer serviert, und dann das Essen …«, sie war förmlich ins Schwärmen geraten, »… nur französische Küche, sogar für alle, die Trennkost haben wollten. Und von den Mädchen hier, die sich Kosmetikerinnen nennen, hätte keine einzige
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