Menschenskinder
vor uns hatten. Bis auf Rosemarie duzten wir uns inzwischen alle, warum auch nicht, wir saßen quasi im selben Boot und würden uns nach dieser gemeinsamen Woche voraussichtlich nie wieder sehen. Doch dann besuchte uns Amelie im Kaminzimmer, bat um einen Moment Gehör und eröffnete uns, dass sich die Damen des Unterhauses über uns beschwert hätten. Sie fühlten sich diskriminiert, da wir sie überhaupt nicht zur Kenntnis nähmen, nicht einmal während der Mahlzeiten würden wir Gemeinschaftssinn beweisen, obwohl es doch gar keine Tischordnung gebe, an der Morgengymnastik nähmen wir auch nie teil, und ob wir denn was Besseres wären?
»Ganz im Gegenteil! Wir sind doch die Proletarier, weil wir uns nicht mal zum Abendessen umziehen«, konterte Renate sofort, »oder haben Sie wirklich noch nie den Einzug der Gladiatorinnen miterlebt?«
Amelie sah uns der Reihe nach fragend an. »Ich weiß nicht, was Sie meinen.«
»Ich meine die in Seide und Chiffon gehüllte, mehr oder weniger vorteilhaft geschminkte Damenriege, die sofort nach dem Abendessen enteilt, um im Kurhaus oder in einem der anderen Festsäle das Tanzbein zu schwingen.«
»Warum sollten sie nicht?«, wunderte sich Amelie. »Hier hat doch niemand Hausarrest.«
»Aber es wird auch niemand gezwungen, sich ihnen anzuschließen, um sich von älteren Herren zwischen dem zweiten und dritten Frühling auf die Zehen treten zu lassen.«
Diese durchaus richtige Feststellung entlockte Amelie denn doch ein leichtes Lächeln. »Ich will Sie bestimmt nicht zu einem geselligen Beisammensein zwingen, doch falls es Ihnen nicht allzu viel ausmacht, wäre ich dankbar, wenn sich die eine oder andere wenigstens während der Mahlzeit an einen der übrigen Tische setzte.« So, jetzt war es heraus! Amelie erhob sich, nickte uns allen zu und ging.
»Also wir sind vom Strafdienst befreit«, meldete sich Steffi sofort, »schließlich haben wir gleich am ersten Abend mit diesem komischen Gespann an einem Tisch sitzen müssen. Weiß eigentlich jemand, ob und wie die zusammengehören?«
Rosemarie wusste. »Das sind Tante und Nichte, die sind schon zum vierten Mal hier, aber gebracht hat es wohl noch gar nichts.«
»Bei wem?«, erkundigte sich Lilo.
»Bei der Nichte.«
»Ich finde, die Tante hätte es viel nötiger.«
»Es geht wohl weniger um das Äußere, als vielmehr um das mangelnde Selbstbewusstsein von der Nichte. Sie heißt übrigens Roswitha, schon allein der Name ist ein Hinderungsgrund. Der zweite dürfte die Fischfabrik sein, ist ja doch ein bisschen anrüchig.«
»Wieso? Arbeitet sie da?«
»Nein, die gehört der Tante, aber der Sohn erbt sie mal, und mit dem ist sie verheiratet.«
»Die Tante?«
»Die Nichte!«
»Also nun noch mal von vorne!«, verlangte Conny. »Die Tante hat eine Fischfabrik, die ihr Sohn mal erben wird, ja? Ich schätze, das dauert noch eine Weile, denn Tantchen sieht ziemlich kregel aus, aber das steht ja nicht zur Debatte. Wenn ich das richtig verstanden habe, dann ist der Sohn mit Roswitha verheiratet, folglich ist die Tante gar keine Tante, sondern Roswithas Schwiegermutter.«
»So gesehen, ja«, stimmte Rosemarie zu, »aber sie ist auch die Schwester ihrer verstorbenen Mutter, und sie meint, Tante klingt besser als Schwiegermutter.«
»Dann hat Roswitha also ihren Cousin geheiratet. Darf man das überhaupt?«
»Man darf«, bestätigte Renate, »was glaubt ihr denn, weshalb so viele Mitglieder des europäischen Hochadels einen an der Waffel haben?« Sie schüttelte den Kopf. »Ich habe zwar noch nie was von einer adeligen Fischfabrik gehört, meine Heringsdosen kaufe ich meistens bei Aldi, aber ich verstehe nicht, weshalb der Besitz eines solchen Unternehmens zu Minderwertigkeitskomplexen führen soll.«
Conny nickte. »Fisch ist gesund, wenn man mal von dem bisschen Cadmium absieht, und teuer ist er auch. Also ich hätte nichts gegen so eine kleine Fabrik einzuwenden. Aber was hat die ganze Geschichte mit unserer Beautywoche zu tun?«
Rosemarie zögerte. »Eigentlich hätte ich das gar nicht erzählen dürfen, denn ich habe ein Gespräch zwischen Tante und Nichte belauscht. Unabsichtlich natürlich«, beteuerte sie sofort, »und auch ungewollt, ich lag nämlich in der KräuterBadewanne und die beiden Damen im Nebenraum unterm Solarium, die hatten mich gar nicht bemerkt. Da hat sich Roswitha über ihren Mann beschwert, weil der ihr schon wieder Vorwürfe gemacht hat von wegen schüchtern sein und verklemmt, sie solle endlich mehr
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