Menschenskinder
ich immer den Mut nehme, da reinzugucken.«
»Warum denn nicht? Seitdem die Pickelpaste runter ist, siehst du doch wieder ganz menschlich aus«, widersprach Renate.
»Findest du?« Und dann nach kurzem Zögern: »Hast ja Recht, wer schöner ist als ich, ist sowieso bloß geschminkt!« Sie nahm das Tuch wieder ab. »Jetzt möchte ich mal den silbernen Umhang probieren. Ich bin doch nur ein Kind aus dem Volke, was soll ich mit Gold?«
Unter der silbernen Stoffbahn sah sie ganz verändert aus. Es schien, als spiegelten sich ihre grauen Augen in dem schimmernden Stoff, der wiederum einen wunderbaren Kontrast zu dem dunklen Haar bildete. »Das isses«, rief Moni sofort, »du musst kalte Farben tragen!«
Bei Steffi war’s genau umgekehrt. »Verzichten Sie auf kräftiges Blau«, empfahl das Pferd und legte ihr noch einmal den goldenen Stoff über die Schultern, »Sie brauchen warme Töne, gedämpftes Rot, dunkles Gelb, Orange …«
»Du kannst mein Sweatshirt haben«, rief Conny dazwischen, »das ziehe ich bestimmt nicht mehr an.«
»Abgemacht! Dann kriegst du meinen blauen Pullover, der ist noch so gut wie neu. Ich habe mir nämlich nie so richtig darin gefallen.« Ich nahm als Letzte auf dem Stühlchen Platz, und bei mir dauerte es auch am längsten, bis sich die Jury halbwegs einig geworden war. Angeblich gehöre ich zu den ›sowohl-alsauch-Typen‹, die alles tragen können (und deshalb auch nie wissen, was ihnen denn nun wirklich steht!). Mit diesem goldenen Lappen unterm Kinn gefiel ich mir allerdings noch weniger als mit Silber. Es musste schon seinen Grund gehabt haben, dass ich vor vierzig Jahren keinen goldenen Trauring wollte, sondern einen aus Platin, aber Rolf hatte gemeint, eine Küche sei wichtiger, und 333er täte es auch.
Frau von Halder verteilte kleine Kärtchen, auf denen genau angegeben war, wer denn nun welche Farben tragen sollte, um seinen Typ am vorteilhaftesten zu unterstreichen, aber weil ich meine verbummelt habe und Steffi ihre mitsamt dem Prospektmaterial des Heidehauses in den Papiercontainer geschmissen hat, werden wir wohl auch weiterhin falsch angezogen sein.
Weiß jemand von euch, wer oder was die fünf Tibeter sind?
»All, Abdel, Achmed, Kemal und Hussein«, kam es sofort an Conny zurück.
»Du verwechselst da was! Tibet liegt nicht in Arabien!« zwar hatte ich keine Ahnung, welche Vornamen in der dortigen Gegend gerade en vogue waren, aber Achmed und Ali klangen in meinen Ohren mehr nach Wüste als nach ›Dach der Welt‹.
»Ich glaube, Sie meinen die tibetanische Morgengymnastik«, schaltete sich Rosemarie ein, die frisch gewickelten Beine sorgfältig in die Jogginghose schiebend. »Das sind Entspannungs- und Konzentrationsübungen, jedenfalls auch wieder so etwas, wonach man sich äußerst wohl fühlen soll.«
»Am wohlsten fühle ich mich auf’m Sofa mit’m Buch in der Hand und ’ner Tasse Tee auf’m Tisch«, sagte Steffi, »das muss ich nicht erst trainieren.«
Ich blicke durch diese ganzen asiatischen Sportarten sowieso nicht mehr durch. Früher gab’s bloß Judo, das hätte ich seinerzeit wahnsinnig gern gelernt, um endlich mal Klaus oder Ulli besiegen zu können. Als Kinder hatten wir uns nämlich dauernd in den Haaren gelegen, doch meistens hatte ich den Kürzeren gezogen. Ich hatte mir schon ausgemalt, wie ich ganz lässig mit einer einzigen Handbewegung meinen Erzfeind Ulli auf den Boden werfen würde, nur hatte mir Omi einen Strich durch die Rechnung gemacht. »Das ist nichts für Mädchen!«, hatte sie entschieden und mich vertröstet, ich käme ja bald in den BDM, da werde Sport bekanntlich ganz großgeschrieben.
»Die machen doch bloß Reigentänze oder hopsen mit Keulen durch die Wiesen, was hat denn das mit Sport zu tun?« Dieses Herumgehüpfe hatte ich in der ›Wochenschau‹ gesehen, die im Kino immer vor dem Hauptfilm lief, und für so was hatte ich mich schon damals nicht begeistern können. Aber Judo – ja, das wär’s gewesen!
Heute gibt es Karate und Taek Won Do und Budokan und Kendo und ich weiß nicht, was noch alles, aber meine frühere Begeisterung hat erheblich nachgelassen. Die durchgehauenen Ziegelsteine beeindrucken doch sowieso keinen Menschen mehr, und seitdem ich beinahe mal die Polizei benachrichtigt hätte, weil mitten im Wald …
Damals hatte Dackel Otto nicht nur noch gelebt, sondern war im Gegensatz zu späteren Jahren ausgesprochen wanderlustig gewesen. Besonders sonntags, und da am liebsten ganz früh am Morgen.
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