Menschenskinder
Entzugserscheinungen sind halb so schlimm, die psychischen leider nicht.
Machen wir’s kurz: Während der Lektüre hatte ich noch fast ein halbes Päckchen Zigaretten geraucht, Spende von Steffi, die eine Packung ›für alle Fälle‹ in Reserve gehabt hatte, es nach ihrer Meinung jedoch nicht mehr brauchen würde. Am 12. August, genau sieben Minuten vor Mitternacht, habe ich eine gerade angerauchte Zigarette im Aschenbecher ausgedrückt und feierlich verkündet: »Das war meine letzte!« Und sie ist es bis heute tatsächlich geblieben!
Nein, es folgt keine Selbstbeweihräucherung, ich bin weder charakterstark noch besonders konsequent, und dass ich tatsächlich durchgehalten habe, war Stefanie zu verdanken, sie weiß es nur nicht. Sobald ich nämlich rückfällig werden wollte, habe ich mir selbst gut zugeredet: »Wenn dieses dumme Gör das kann, wirst du es wohl auch schaffen!« Das dumme Gör ist damals schon über dreißig gewesen und ich doppelt so alt, aber in punkto Zigarettenkonsum hatten wir annähernd das gleiche Level erreicht. Nur – ich hatte ungefähr zwanzig Jahre Vorsprung gehabt!
»Du musst jetzt ein bisschen mit dem Essen aufpassen«, hatte mich Steffi gewarnt, »Schluss mit Schokoriegel oder Butterkeksen für den kleinen Hunger zwischendurch.«
»Dann steige ich eben auf Studentenfutter um, das ist sowieso gesünder.«
»Bist du wahnsinnig? Weißt du denn nicht, wie viele Kalorien Nüsse haben?«
Nein, woher denn auch? Hatte mich doch nie interessiert. Seit Jahren hielt ich mein Gewicht, und wenn es mal mehr geworden war – Familienfeste wirken sich zumindest in dieser Beziehung häufig negativ aus –, dann gab es eben zwei Tage lang Grünzeug statt Gulasch. Und jetzt sollte ich nicht mal mehr eine Hand voll Nüsse essen dürfen? Wer sagt das?
Also besorgte ich mir als Erstes eine Kalorientabelle. Und nach gründlichem Studium derselben ein Kilo frische Karotten. Junger Kohlrabi erfüllt aber denselben Zweck, Radieschen gehen auch, Äpfel sind weniger empfehlenswert, weil man danach noch mehr Hunger kriegt. Ich gebe ja zu, dass ein Schokoriegel besser schmeckt als eine rohe Mohrrübe, aber sie ist immer noch hilfreicher als gar nichts, wenn man vor dem Computer sitzt und sich bei geistiger Ebbe nicht an einer Zigarette festhalten kann.
Genützt hat es sowieso nichts. Ich kann nicht einmal mehr sagen, wie lange es gedauert hat, bis ich eines Morgens den Reißverschluss meiner Lieblingsjeans nicht mehr bis ganz nach oben zuziehen konnte. Ich hätte sie eben doch nicht bei 60 Grad waschen dürfen, redete ich mir ein, 40 hätten auch genügt, jetzt ist sie tatsächlich ein bisschen eingegangen. Seltsam nur, dass im Laufe der folgenden Wochen alle Hosen zu eng wurden und auch die T-Shirts, sogar die meisten Pullover, obwohl ich sie immer mindestens eine Nummer größer kaufe. Nur die Blusen passten noch, vorausgesetzt, ich trug sie über der Hose!
Und dann kam der Tag, an dem ich in die Stadt fuhr, um mir – natürlich nur für die Übergangsphase! – etwas zum Anziehen zu kaufen. Wahrscheinlich war es ganz einfach Frust, dass ich nichts fand, was mir gefiel. Alle richtig schicken Hosen hingen auf Ständern mit den für mich nicht mehr aktuellen Größen, die Blusen für ›oben drüber‹ sahen in meinen Augen allesamt altbacken aus, Röcke kamen schon überhaupt nicht in Frage, und T-Shirts waren überflüssig, weil man im Herbst kaum noch welche braucht. Nach drei Stunden erfolglosen Suchens fuhr ich wieder nach Hause mit nur zwei kleinen Kartons im Kofferraum. Wenigstens meine Schuhgröße hatte sich nicht geändert!
Trost fand ich nur bei Steffi und bei meinem Sparschwein. Jeden Abend steckte ich einen Zehnmarkschein in den Schlitz, denn ungefähr diese Summe hatte ich täglich in die Luft geblasen.
»Was willst du denn mit dem gesparten Geld machen?«, erkundigte sich Rolf, als ich einen weiteren nikotinfreien Tag in meiner Buchführung abhakte und dann das Schwein fütterte, »Zigarren kaufen? Die werden nämlich nicht auf Lunge geraucht.«
»Es wird mir schon etwas Passendes einfallen«, sagte ich und dachte an meine Kindheit, als ich mit täglich einem Löffel Lebertran traktiert worden war und hinterher zur Belohnung zehn Pfennig für die Spardose bekommen hatte. Wenn die Flasche leer gewesen war, wurde von dem gesparten Geld eine neue gekauft – kein Wunder also, dass ich bis dato ein etwas gespaltenes Verhältnis zu Sparbüchsen hatte.
Trost und Zuspruch durchs Telefon
Weitere Kostenlose Bücher