Menschenskinder
deutsche Standardfichte, fängt bereits Heilig Abend an zu nadeln, um Neujahr herum biegen sich die Zweige schon merklich nach unten, und am ersten Schultag nach den Weihnachtsferien beginnen die internen Wetten: Wie lange wird sie diesmal stehen bleiben? Bis zum Zwanzigsten? Fünfundzwanzigsten? Noch länger? Die Kontrolle ist relativ einfach, Straße und Gehweg führen direkt am Haus vorbei, und das Fenster kann sogar vom Auto aus eingesehen werden. Soviel ich weiß, steht der Rekord bei 34 TnW = Tage nach Weihnachten. Vielleicht schaffen sie es ja doch noch mal, nahtlos in die Osterhasen-Periode überzuwechseln.
Uns ist so etwas schon gelungen. Seitdem es auch in Deutschland üblich ist, den Start in die konsumfreudigste Zeit des Jahres durch entsprechende Gestaltung seines Vorgartens anzuzeigen – in Ermangelung eines solchen tut’s auch der Balkon beziehungsweise die zur Straße hin gelegenen Fenster –, musste natürlich auch unsere Blautanne illuminiert werden. Nur pflegen Bäume nun mal’ zu wachsen, und als Sven sich weigerte, die Lichterkette in ungefähr vier Meter Höhe anzubringen, wo es die ersten Äste gab, suchten wir nach einem Ausweg.
»Warum nehmen wir nicht den Flieder?«, hatte Katja nach gründlicher Inspektion der gegebenen Möglichkeiten vorgeschlagen, »die Blätter sind alle runter, und wer sagt denn, dass es ein Nadelbaum sein muss?«
Recht hatte sie! Unser Gegenüber hängt seine Lichtlein immer an den Buchs, und ein paar Häuser weiter wird jedes Mal eine künstliche Tanne hervorgeholt und in einen mit rotem Lackpapier und Goldschleife verbrämten Zinkeimer gestellt. Warum also nicht der Fliederbusch? Tagsüber sieht man kaum etwas von den Lichtern und im Dunkeln nicht, worauf sie festgemacht sind, zumal es meinen Männern immer gelingt, die beiden Ketten (eine genügt ja nicht mehr) in der ungefähren Form eines Dreiecks zu stecken. Das ist jedes Mal ein sehr zeitaufwändiges Unternehmen und nur mit regelmäßiger Zufuhr von Glühwein zu bewerkstelligen.
Dann ist Weihnachten vorbei, der Dreikönigstag auch, den Christbaum hat die Jugendfeuerwehr gegen eine freiwillige Spende längst abgeholt, nur der Fliederbusch trägt noch seine Illumination. Natürlich wird sie nicht mehr aktiviert, doch allmählich sollte sie runter. Geht aber nicht wegen der Schneereste. Oder weil’s regnet. Oder weil es schon zu dunkel ist, wenn Sven gerade mal Zeit hätte. Doch gegen Ende des Monats kommt ein Tag, an dem es weder schneit noch regnet, es scheint sogar die Sonne, Sven hat mir zwei Hemden gebracht, die sich so schwer bügeln lassen … er hat also keinen Grund, die Demontage der Weihnachtsbeleuchtung wiederum zu verweigern, holt die ausziehbare Leiter aus dem Keller, lehnt sie an den Fliederbusch, steigt auf die erste Stufe, dann auf die zweite und – sinkt zehn Zentimeter tief in den Boden. »Hat keinen Zweck«, verkündet er strahlend, »da ist noch alles aufgeweicht.«
Dieser Zustand ändert sich auch während der nächsten Wochen nicht, nur genügt jetzt zur Kontrolle ein flüchtiges Abklopfen des fraglichen Bereichs, gefolgt von einem bedenklichen Kopfschütteln. »Wenn ich da mit der Leiter komme, ist der ganze Rasen im Eimer!« Die Frage, welchen Rasen er denn wohl meine, da die Grundfläche unseres Gartens doch bekanntlich aus Moos, Klee und jenen grünen Gewächsen besteht, deren Nützlichkeit wir bloß noch nicht ergründet haben, erspare ich mir- sie hätte mir bloß wieder einen halbstündigen Vortrag über den Vorteil von Öko-Gärten eingebracht. (Warum erzählt er das eigentlich immer mir statt den Nachbarn, wenn die sich über unsere Pusteblumen oder den Günsel oder beides beschweren?)
Dann ist der Februar vorbei, der März geht auch zu Ende, es wird April, es wird wärmer, aber es regnet auch wieder mehr, Krokusse und Schneeglöckchen verblühen, die Tulpen kommen raus, aus den Forsythienblüten werden Blätter, der Zeitpunkt ist also abzusehen, wenn auch der Flieder grün wird und Knospen ansetzt. Die Weihnachtsbeleuchtung hängt aber immer noch dran!
Gegenüber am Buchs schaukeln bereits ausgeblasene Hühnereier im Frühlingswind, Steffi hat mir schon vor Wochen eine Auswahl der neuen Plastikeier-Kollektion mitgebracht, sieht ja wirklich alles hübsch und sogar ziemlich echt aus, aber wohin damit? Am Flieder hängt doch noch Weihnachten!
Schließlich kam der Tag, an dem wir zwei Leitern brauchten, weil Sven auf der einen Seite noch die Lichterkette abhängte,
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