Menschensoehne
interessiert sich schon für einen Bücherwurm, bei dem schon um die zwanzig das Haar dünner geworden war und der von Natur aus eigenbrötlerisch veranlagt zu sein schien. Aber diejenigen, die ihn etwas besser kannten, fanden, dass man sich gut mit ihm unterhalten konnte. Wenn es darauf ankam, konnte er sogar witzig sein.
Während die anderen jungen Männer in seinem Alter ihre zukünftigen Ehefrauen kennen lernten, Kinder bekamen, sich eine Wohnung zulegten und studierten, sich in Schulden stürzten und ihre Karriere planten, las Pálmi Bücher und hortete sie. An der Universität studierte er zunächst Literaturwissenschaft, fand die Seminare aber langweilig und wechselte zu Geschichte über, was ihm besser gefiel. Pálmi hatte sich im Laufe der Zeit eine umfangreiche Bibliothek zugelegt, und als er herausfand, dass seine Büchersammlung genauso gut, wenn nicht besser war als die in seinem Lieblingsantiquariat, kam er auf die Idee, selbst eines zu eröffnen. Er begann mit einem kleinen Laden im Þingholt-Viertel. Als dann im Zuge der Rezession Anfang der neunziger Jahre eine der Modeboutiquen auf dem Laugavegur Pleite machte, sah er seine Chance gekommen. Mit seinen Büchern hielt er dort Einzug, wo vorher trendige Kleidung zu horrenden Preisen verkauft worden war. Sein Geschäft lief bestens, deswegen konnte er es sich leisten, die angehende Literaturwissenschaftlerin einzustellen, hauptsächlich um sich hin und wieder aus dem Geschäft entfernen und seinen historischen Recherchen nachgehen zu können. Er veröffentlichte Artikel in den einschlägigen Fachzeitschriften, und sein Hauptforschungsgebiet waren die isländischen Entdeckungsfahrten von Grönland aus nach Amerika. Er arbeitete bereits seit geraumer Zeit an einem Werk über Guðríður Þorbjarnardóttir, deren Sohn Snorri als erster Weißer in Amerika geboren wurde. Pálmi war bekannt für seine sorgfältige und umsichtige Arbeitsweise. Sein ganzes Leben war von Vorsicht und Bedächtigkeit geprägt, und von einer Art Flucht vor der Realität. Einen Fernseher besaß er nicht, weil der ihm nur die kostbare Zeit für seine Bücher stahl. Genauso wenig hatte er einen Computer, denn er begriff weder dessen Wert noch Nutzungsmöglichkeiten, und es wäre ihm nie in den Sinn gekommen, sich diesbezüglich eines Besseren belehren zu lassen. Er schrieb zunächst mit der Hand und tippte anschließend das Manuskript mit der Schreibmaschine ab.
Pálmi dachte darüber nach, was Jóhann über seinen Bruder gesagt hatte. Dass er Daníel im Grunde genommen nie wirklich kennen gelernt hätte, sondern nur eine Persönlichkeit, die durch die Medikamente zu einem Zerrbild geworden wäre. Im Grunde genommen galt dasselbe auch für Pálmi. Er hatte Daníel zwar sein ganzes Leben lang gekannt, aber sein Bruder war ein einziges Rätsel für ihn gewesen. In erster Linie war er ein problematischer Mensch gewesen. Er konnte sich erinnern, wie Daníel einmal mitten in der Nacht draußen vor ihrem Haus gestanden und ohne ersichtlichen Grund wie am Spieß geschrien hatte. Er hatte bloß dagestanden und gebrüllt und gebrüllt, bis es jemandem zu viel wurde, und er die Polizei anrief.
Er konnte sich an all diese Besuche in der Klinik erinnern. Seine Mutter und er fuhren mit dem Bus dorthin. In seiner Erinnerung waren es meistens Winter voller Kälte und Dunkelheit. Die Lichter in der Stadt flimmerten durch die vereisten Scheiben des Busses, die feuchten Sachen der Passagiere dampften und verströmten einen muffigen Geruch, der ihm in die Nase stieg. Sie mussten zwei Mal umsteigen, um die Linie zu erreichen, die zur Klinik führte, und die Fahrt konnte manchmal eine ganze Stunde dauern. Er erinnerte sich an seine Mutter in dickem Wintermantel und billigen Winterschuhen. Sie hatte nicht viel Geld zur Verfügung gehabt, aber das hatte Pálmi kaum zu spüren bekommen. Wenn es kalt war, zog seine Mutter ihm einen dicken Pullover und den einzigen Anorak an, den er besaß, und setzte ihm eine dicke, kratzige Wollmütze auf, an der er immer herumzupfte. Er konnte sich an die Geräusche des knirschenden Schnees erinnern, wenn sie von der Haltestelle zur Klinik gingen.
Damals war das Gebäude noch schön gewesen. Es gab keine Gitter vor den Fenstern. Der Park ringsherum war sehr gepflegt, und zu Weihnachten wurden die schönen Tannen mit Lichterketten dekoriert. Daníel hatte sämtliche Stationen der Klinik durchlaufen. Manchmal bekamen sie ihn gar nicht zu Gesicht, weil er in eine
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