Menschensoehne
außer vielleicht diese Rotzlöffel da in der Schule«, sagte Helena. »Die sind furchtbar mit meinem Halldór umgesprungen. Ganz furchtbar. Diese jungen Leute heutzutage, mit denen stimmt doch etwas nicht. Jóhanna, die ein Stockwerk höher wohnt, der wurde vor zwei Tagen hier direkt vor dem Haus die Handtasche weggerissen. Diese Halbstarken! Und sie haben sie niedergestoßen. Von wegen Notdienst, der kam erst zwei Stunden später.«
Erlendur schwieg.
»Ihr von der Polizei wolltet überhaupt nichts damit zu tun haben, ihr habt alles auf diesen Notdienst abgeschoben. Seht ihr das Ding da mit der Schnur? Das soll die direkte Verbindung zur Zentrale sein, aber es ist kaputt und war von Anfang an nicht in Ordnung. Und der Hauswart lässt sich ums Verrecken nicht bei uns hier oben blicken, um das in Ordnung zu bringen.«
»Wann hast du zuletzt mit Halldór gesprochen?«, fragte Sigurður Óli genervt, denn im Gegensatz zu Erlendur langweilte ihn das Geschwätz der Alten.
»Ich habe gestern noch mit ihm telefoniert. Das war dann wohl am gleichen Tag, als er gestorben ist.«
»Und über was habt ihr gesprochen?«
»Er hat angerufen, was er sonst nur sehr selten tat. Allerdings war ich in dieser Hinsicht auch nicht viel besser. Wir haben einander nie sehr nahe gestanden, aber das ist vielleicht nicht weiter verwunderlich. Ich bin in Reykjavík geboren, und er ist im Árnes-Bezirk aufgewachsen. Ich bin vierundachtzig, und er ist, ich meine, er war, sechsundsechzig. Wir hatten noch andere Halbgeschwister, die aber alle in meinem Alter waren, und sie sind schon alle unter der Erde. Ich bin immer davon ausgegangen, dass Halldór der Letzte von uns sein würde, aber jetzt lastet das wohl auf mir. Ich glaube, dass unser Vater Svavar schon sechzig gewesen sein muss, als Halldór gezeugt wurde. Mein Vater war ein unbekümmerter Mann, er hat das Leben in vollen Zügen genossen und hat bestimmt ziemlich viele Frauen glücklich gemacht. Allerdings nicht meine Mutter. Ich glaube, er hatte Kinder in sämtlichen Landesteilen. Als passionierter Reiter kam er …«
»Und was wollte Halldór, als er angerufen hat?«, unterbrach Sigurður Óli. Erlendur warf ihm einen Blick zu, der ihm zu verstehen gab, dass er sich gefälligst zurückhalten sollte.
»Was soll denn das?«, fragte Helena und schaute Sigurður Óli an.
»Sprich nur weiter«, sagte Erlendur. »Svavar hatte eine Leidenschaft für Pferde?«
»Es ist für euch vielleicht nicht so wichtig. Aber er hat sich nie um Halldór gekümmert. Der Junge war wahrscheinlich achtzehn oder neunzehn, als sein Vater starb. Seine Mutter hatte nie wieder was mit diesem Mann zu tun gehabt. Sie ist sogar vor ihm gestorben. Sie war eine ziemlich komische Person. Halldór sprach nie darüber, aber ich glaube immer mehr, dass sie geistig etwas minderbemittelt war.« Sie hielt einen Moment inne.
»Oder vielleicht war sie einfach nur naiv. Sie hat dauernd die Stellung gewechselt, und ich glaube, dass ihr das nicht gut getan hat, wenn du verstehst, was ich meine.«
»Meinst du …«
»Ich meine genau das, was ich sage. Ihre damaligen Arbeitgeber waren schlimm, und obwohl es nie direkt zur Sprache gekommen ist, kann es ganz gut sein, dass mein Vater gar nicht Halldórs Vater ist. Aber was weiß ich. Halldór hatte es schwer im Leben, und als seine Mutter gestorben war, kam er zu mir, und ich habe dafür gesorgt, dass er auf die Pädagogische Akademie ging. Ich habe nie feststellen können, dass er auch nur die geringste Ähnlichkeit mit meinem Vater hatte.«
»Wie ist seine Mutter zu Tode gekommen?«, fragte Sigurður Óli.
»Als sie schließlich nach Reykjavík gezogen waren, brach der Zweite Weltkrieg aus, die Tommys kamen nach Island, und sie wurde eines von diesen Soldatenflittchen. Gegen Ende des Kriegs hat man sie eines Morgens erfroren vor einer der Militärbaracken gefunden.«
»Und was wurde aus Halldór?«, fragte Erlendur.
»Er war mit ihr nach Reykjavík gezogen, stand aber damals schon auf eigenen Beinen. Alt genug war er. Er behielt die kleine Mietwohnung seiner Mutter und verdiente sich seinen Lebensunterhalt als Arbeiter. Er wusste von seinen Halbgeschwistern und nahm Verbindung mit mir auf. Ich habe ihm, so gut ich konnte, geholfen. Der Junge war nicht dumm, und ich habe dafür gesorgt, dass er eine Ausbildung bekam. Er wollte unbedingt an die Hochschule. Ich glaube, er war ein guter Lehrer. Und er war auch kein schlechter Mensch.«
Helena verstummte, und die drei saßen
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