Menschensoehne
Büro ließ er sich nichts verbieten. Oft kamen Raucher aus anderen Abteilungen und fanden bei ihm Zuflucht.
Sie hörten zu, während Pálmi berichtete. Er sprach leise, langsam und vorsichtig und schien jedes Wort, das er von sich gab, auf die Goldwaage zu legen. Er erzählte ihnen von seinem Bruder Daníel, davon, wie er krank wurde und sich zum Schluss umgebracht hatte. Und dass Halldór ihn in den letzten Wochen besucht hatte. Pálmi zeigte ihnen das Klassenfoto.
»Damals ist er etwa zehn Jahre alt gewesen«, sagte er. »So ungefähr um die Zeit kam ich auf die Welt.«
Dann erzählte er von dem Mann, der bei der Beerdigung aufgetaucht und weggerannt war. Er erzählte ihnen nicht gleich von den Lebertrankapseln, denn er hatte das Gefühl, er müsse erst ihr Vertrauen gewinnen, bevor er näher darauf eingehen konnte. Er sprach über Helena, die ihm gesagt hatte, dass Halldór umgebracht worden war und dass er eine schlimme Kindheit gehabt hatte und sexuell missbraucht worden war − und dann später als Lehrer selbst Kinder missbraucht hatte. Helena hatte auch zu verstehen gegeben, dass danach irgendjemand Halldór unter Druck gesetzt und ihn gezwungen hatte, für sich zu arbeiten, wahrscheinlich in der Schule, vermutete Pálmi.
»Halldór wurde gefeuert, als herauskam, dass er sich an den Jungen in der Schule vergangen hatte«, warf Sigurður Óli ein. »Er ging dann nach Reykjavík und bekam die Stelle in der Víðigerði-Schule, in der er offensichtlich weiterhin seinen perversen Neigungen nachging.«
»So etwas kennt man ja. Ein Junge, der missbraucht worden ist, wird als Erwachsener selbst zum Päderasten«, sagte Elínborg. »Ich glaube, dafür gibt es massenweise Beispiele. Das sind widerwärtige Scheusale, aber irgendwie ist man auch gezwungen, Mitleid mit ihnen zu haben.«
»Sind die Eltern dahintergekommen«, fragte Einar, »oder die Schulbehörden?«
»Das ist ein ganz neuer Aspekt. Wir müssen mit dem früheren Schulleiter der Víðigerði-Schule reden«, sagte Erlendur.
»Einer der Gründe, weshalb ich mich an euch gewandt habe, ist die Bitte, mir zu helfen, diesen Mann hier zu finden«, sagte Pálmi und deutete auf den Kopf eines Jungen auf dem Klassenfoto. Ganz rechts am Ende der obersten Reihe stand ein Junge mit langen Haaren, der einen quer gestreiften Pullover trug und breit grinste.
»Wer ist das?«
»Das ist der, der bei Daníels Beerdigung aufgetaucht ist. Ich konnte mich vage an ihn erinnern. Er hat sich in all den Jahren ziemlich stark verändert, wahrscheinlich wie alle auf dem Bild. Er hat Daníel sehr gut gekannt und weiß etwas darüber, was damals passiert ist.«
»Weißt du, wie er heißt?«, fragte Einar.
»Sigmar, glaube ich. Ich habe versucht, ihn ausfindig zu machen, indem ich das Telefonbuch durchgegangen bin, andere Anhaltspunkte hatte ich nicht. Alle aus der Klasse haben ihre Namen auf die Rückseite geschrieben.«
Elínborg hielt das Foto in der Hand, drehte es um und sah, dass auf der Rückseite mit roten oder blauen Kugelschreibern die Namen der Schüler gekritzelt worden waren.
Pálmi zögerte einen Augenblick.
»Ich glaube, das Ganze steht mit Lebertranpillen in Verbindung. Sowohl Daníels Selbstmord, der Mord an Halldór als auch der Überfall auf Helena.«
»Wie bitte, Lebertranpillen?«, fragte Erlendur verblüfft und starrte Pálmi an.
»Ich weiß, dass es merkwürdig klingt, aber Lebertranpillen spielen dabei eine Rolle. In diesen Jahren, als Daníel in der Volksschule war, wurden allen Kindern in der Klasse Lebertranpillen verabreicht. Als ich in die Schule kam, gab es so etwas nicht mehr. Das war irgend so eine Gesundheitsvorsorgemaßnahme, denn damals gab es noch Ernährungsmängel in Reykjavík. Die Angestellten in der Klinik haben aufgeschnappt, wie Halldór und Daníel sich über Lebertrankapseln unterhielten, aber das war auch das Einzige, was sie mitbekommen haben. Niemand hat sich was dabei gedacht, dazu bestand ja auch kein Anlass. Als ich nach der Beerdigung mit Sigmar sprechen wollte, hat er Ausflüchte gebraucht und ist weggerannt, hat mir aber noch zugerufen, dass in diesen Kapseln kein Lebertran gewesen ist. Ich habe keine Ahnung, was er damit gemeint hat, aber genau das hat er gesagt. So absurd, wie es klingt, aber Lebertrankapseln haben etwas mit der Sache zu tun.«
Alle fünf schauten ihn an und überlegten.
»Was in aller Welt könnten Lebertranpillen mit dem Mord an Halldór und dem Überfall auf Helena zu tun haben?«, brach
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