Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Menschensoehne

Menschensoehne

Titel: Menschensoehne Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Arnaldur Indridason
Vom Netzwerk:
ich begreife gar nichts und bereue alles so sehr. Ich hatte nicht einmal den Mut, ihn im Sarg anzusehen. Als sein alter Freund sich herunterbeugte und ihn zum Abschied küsste, tat er genau das, was ich hätte tun sollen, und ich habe seitdem extreme Schuldgefühle. Es war, als würde jemand mich anschreien: Was ist eigentlich los mit dir, Pálmi? Er war doch dein einziger Bruder! Sonst ist niemand mehr aus unserer Familie übrig, und er starb, bevor ich mich überwinden konnte, ihn kennen und lieben zu lernen. Das Schlimme ist bloß, dass ich davon überzeugt bin, dass ich es nie getan hätte, auch wenn er hundert Jahre alt geworden wäre. Ich hätte es nie geschafft. Jetzt ist mir auf einmal klar geworden, dass nicht Daníel mich brauchte, sondern umgekehrt, ich brauchte ihn. Aber das habe ich erst begriffen, nachdem ich ihn verloren hatte. Ich habe mich immer nur als mitleidigen Samariter gesehen, der seine Pflicht tat und manchmal ein bisschen mehr. Seine Pflicht tat! Als ob man dazu da wäre, irgendwelche Pflichten zu erfüllen! Ich habe einfach darauf gewartet, dass er starb.«
    »Es hat doch keinen Sinn, sich mit solchen Selbstvorwürfen zu quälen«, sagte Dagný.
    »Es ist aber wahr, Dagný. Ich war im Grunde genommen irgendwie froh, als er gesprungen ist. Kannst du dir das vorstellen? Froh. Zu was für einem Scheusal bin ich eigentlich geworden? «
    »Das hast du bestimmt nie gedacht.«
    »Ich habe diese Vorstellungen oft unterdrücken müssen. Sie kamen aber immer wieder hoch. Du weißt bestimmt, auf was für blödsinnige Gedanken man kommt, wenn etwas Tragisches passiert. Man hört von jemandem, der viel zu früh gestorben ist, und das Herz setzt einen Schlag aus; man ist froh, dass es einen nicht selbst erwischt hat. Idiotische Gedanken, die vermutlich aber eine Art spontane Reaktion sind. Ich weiß es nicht. Diese Gedanken über Daníel lassen mich nicht los.«
    »Ich weiß überhaupt nicht, wovon du redest. Ich weiß nur, dass du kein bisschen froh über Daníels Tod warst.«
    »Vielleicht war ich das auch nicht, aber ich bin mir eben nicht sicher, verstehst du. Er lag auf einmal in der Luft, dieser Gedanke: Jetzt ist es vorbei. Keine weiteren Besuche in der Klinik. Keine Umstände mehr wegen Daníel. Aber es hat sich herausgestellt, dass es überhaupt keine Erleichterung war, sondern ganz im Gegenteil: Jetzt liegt eine schwere Last auf mir. Endlich nach all diesen Jahren habe ich an Daníel wie an einen Menschen gedacht und es geschafft, mich selbst zu durchschauen. Wenn ich mich doch nur erinnern könnte, wie er war, als wir klein waren. Ich habe das nie so intensiv versucht wie jetzt, aber da ist nichts. Ich habe Daníel komplett aus meinem Leben ausgeblendet. Findest du das nicht merkwürdig? Meinen eigenen Bruder.«
    Dagný antwortete nicht. Pálmi hatte nie zuvor mit ihr über solche Dinge gesprochen.
    »Ich glaube, ich bin die ganze Zeit auf der Flucht gewesen. Mama hat immer behauptet, dass aus mir etwas werden würde. So wie alle Mütter hat sie felsenfest an mich geglaubt, wahrscheinlich auch deswegen, weil ich ihre einzige Hoffnung war. Vielleicht ist Hoffnung nicht das richtige Wort, ich war eher das einzig Normale, was ihr noch geblieben war. Nicht, dass ich auch nur annähernd normal wäre«, sagte Pálmi lächelnd. »Mama hat es schwer gehabt, und sie erträumte sich für mich eine Zukunft, die besser war als das, was sie kannte. In der Schule habe ich nie Probleme gehabt, so war es nicht, aber ich bin auch immer den Weg des geringsten Widerstands gegangen. Habe mich nie irgendwelchen Herausforderungen gestellt. Und in der Universität dasselbe. Meine Freunde studierten Medizin, aber ich wählte Geschichte. Dafür interessiere ich mich wirklich, aber dieses Fach kann man auch so anpacken, dass es völlig verantwortungsfrei ist. Die Projekte, mit denen ich mich abgebe, werden mit Sicherheit keine Meinungsverschiedenheiten verursachen. Ich vermeide es, irgendjemanden vor den Kopf zu stoßen, ich will niemandem zu nahe treten. Du lieber Himmel, ich könnte ja in eine wissenschaftliche Kontroverse hineingezogen werden, es könnte womöglich jemand meine akademischen Qualifikationen in Zweifel ziehen! Mir fehlt jegliche Initiative.«
    »Jetzt sei aber mal nicht zu selbstkritisch. Du hast immerhin ein gut laufendes Antiquariat», warf Dagný ein.
    »Ja, ich bin knapp über dreißig und betreibe ein Antiquariat. Mit was für Problemen muss man sich da denn auseinander setzen? Huch, es ist zu

Weitere Kostenlose Bücher