Menschensoehne
seinem Haus ermordet wurde, ein Kinderschänder gewesen ist. Informationen zufolge, die der Zeitung übermittelt wurden, hat er zu Beginn der sechziger Jahre Jungen in der Volksschule in Hvolsvöllur sexuell belästigt und unzüchtiges Verhalten an den Tag gelegt. Dieser Tatbestand konnte jedoch bislang noch nicht verifiziert werden. Erlendur Sveinsson, der die Ermittlungen in diesem Mordfall leitet, hat dies weder bestätigt noch negiert.
Den Informationen zufolge hat der Tote zum wiederholten Male unzüchtiges Verhalten an den Tag gelegt. Er wurde nicht angezeigt, als seine Vergehen bekannt wurden, aber er musste den Ort verlassen. Die Einwohner von Hvolsvöllur schwiegen die Sache tot. Der ehemalige Schulleiter wollte sich nicht dazu äußern, als sich unsere Zeitung gestern Abend mit ihm in Verbindung setzte, und der gegenwärtige Schulleiter erklärte, nichts über diese Vorfälle zu wissen, weil er erst sehr viel später nach Hvolsvöllur gekommen sei.
Experten für solche Art von Delikten halten es für sehr wahrscheinlich, dass Halldór damit fortfuhr, nachdem er nach Reykjavík zog und an der Víðigerði-Schule zu unterrichten begann. Nach Meinung von Dr. Norma J. Andrésdóttir, Expertin für Sittlichkeitsdelikte, besteht eine hohe Wahrscheinlichkeit, dass sich solche Vorgänge wiederholen, wenn es einmal zu einer abnormen Verhaltensweise gekommen ist.
Auf der Pressekonferenz der Kriminalpolizei gestern Nachmittag …
Als Pálmi ein leichtes Klopfen hörte, ging er zur Tür und ließ Dagný herein. Es war kurz nach acht, und ihre Kinder waren schon in der Schule. Sie selbst musste erst um zehn Uhr ins Büro.
»Was hat dieser Mann von Daníel gewollt?«, fragte Dagný, gleich nachdem sie hereingekommen war.
»Das weiß der liebe Gott«, antwortete Pálmi.
»Was für eine unglaubliche Berichterstattung. Da kommt irgend so ein Depp daher und erzählt infame Geschichten über diesen Mann, und schon wird er in den Augen der Nation als Kinderschänder abgestempelt.«
»Ich war gestern Abend bei der Kriminalpolizei. Es stimmt alles. Sie sind nach Hvolsvöllur gefahren und der Sache auf den Grund gegangen. Der damalige Rektor der Schule hat ihnen die ganze Geschichte erzählt. Halldór hat sich an den Jungen in der Schule sexuell vergangen. Vielleicht hat er damit in der Víðigerði-Schule weitergemacht, und vielleicht sind einige aus Daníels Klasse ihm zum Opfer gefallen. Vielleicht sogar Daníel selbst.«
»Nicht zu fassen«, sagte Dagný. »Die Sache mit Daníel ist ja schon schlimm genug für dich, und dann jetzt noch so was Grauenvolles.«
Pálmi reichte ihr eine große Tasse, in die er starken Kaffee eingoss, holte dann geschäumte Milch vom Herd und füllte die Tasse damit auf. Er trank seinen Kaffee immer so, und Dagný, die sich früher nichts aus diesem Getränk gemacht hatte, war begeistert von seinem Kaffee. Sie saßen ein Weilchen da, ohne etwas zu sagen. Dagný spürte, dass ihm etwas auf dem Herzen lag. Sie wartete ruhig ab. Schließlich brach Pálmi das Schweigen.
»Irgendwie ist das alles seltsam mit Daníel«, sagte er. »Egal, wie ich mich anstrenge, ich habe keine normalen Erinnerungen an ihn aus der Zeit, bevor er krank wurde. Egal, was ich versuche, ich sehe ihn nur in bruchstückhaften und zusammenhanglosen Erinnerungsfetzen vor mir, die mir gar nichts sagen. Verstehst du, was ich meine?«
Dagný schwieg.
»Ich habe immer nur diesen frühzeitig gealterten Daníel in der psychiatrischen Klinik vor Augen. Er war eigentlich die meiste Zeit über sehr nett zu mir. Manchmal hat er überhaupt nichts gesagt. Manchmal redete er stundenlang über sich selbst, über die Klinik und das Personal, und dann noch dieser ganze astrologische Quatsch. Unglaubliche Wahnvorstellungen. Und er hat geraucht wie ein Schlot. Ich muss gestehen, dass ich ihm nie wirklich zugehört habe. Ich habe es die ganze Zeit vermieden, ihm nahe zu sein. Ich hab nur das getan, was ich für meine Pflicht hielt, nicht mehr und nicht weniger. Ich habe ihn besucht, habe mit den Ärzten gesprochen, ich habe Daníel auch mal zu mir nach Hause geholt, ich habe alles, was ihn betraf, mitverfolgt, aber Daníel stand mir nie näher als alle anderen leblosen Dinge um mich herum. Er war nur so etwas wie eine Aufgabe für mich. Etwas, was Mama mir hinterließ, als sie starb. Ich habe mir oft gewünscht, dass es ein Ende nehmen würde, und jetzt, nachdem es tatsächlich zu Ende ist, hänge ich irgendwie vollkommen in der Luft,
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