Menschensoehne
wenig Wechselgeld in der Kasse. Ich verkaufe ein Buch und schlage ein bisschen mehr drauf, als mir genügen würde, um ein gutes Auskommen zu haben. Das ist doch kein Leben, da könnte man genauso gut tot sein. Ich habe mich lebendig begraben. Und das zeigt sich alles an meinen Kontakten zu Daníel. Siehst du, ich verwende das Wort Kontakte, wenn ich über Daníel rede. In Bezug auf ihn verhielt ich mich nämlich genauso. Ich ging den einfachsten Weg, indem ich gar nichts tat und zu verdrängen versuchte, dass er existierte. Es widerstrebte mir, mich mit Daníel auseinander zu setzen, mit seiner Krankheit und dem, was er mir in meiner Kindheit angetan hat. Ich habe ihn völlig ausgeblendet. Das war einfacher, als mich anständig um ihn zu kümmern. Stattdessen habe ich mich verhalten wie eine komplette Null.«
Der Kaffee stand unberührt in den Tassen und war inzwischen kalt geworden. Dagný sah Pálmi an, aber der schaute mit abwesendem Blick an ihr vorbei auf die Wand hinter ihr, so, als stünden dort seine Verfehlungen geschrieben. »Und ich war immer der Meinung, du wärst so selbstsicher und selbstbewusst«, sagte Dagný schließlich. »Hier im Haus trägst du die Nase so hoch, als seist du eine große Nummer.« Sie lachte verlegen.
»Die Nase hoch«, wiederholte Pálmi.
»Ich glaube, du urteilst viel zu streng über dich selbst. Churchill war auch Historiker, vergiss das nicht«, sagte Dagný und lächelte. »Zwischen dir und Daníel bestand ein großer Altersunterschied, und das hat es für euch beide viel schwieriger gemacht, das ist immer so. Er war krank und nicht selten ein schwieriger Patient, und du standest ganz allein da und musstest die Verantwortung tragen. Ich glaube, du hast das Herz auf dem rechten Fleck, und wenn du die Sache mal realistisch betrachtest, wirst du bestimmt sehen, dass es in Wirklichkeit gar nicht anders hätte laufen können. Ich habe eine Schwester, die fünf Jahre älter ist als ich, und ich habe fast gar keine Verbindung zu ihr, außer dass wir uns an Feiertagen treffen. So ist das Leben. Soll man nur dasitzen und sich den Kopf darüber zerbrechen, oder sollte man sich nicht lieber um das kümmern, was man hat, und aufhören, zu spekulieren, was man nie gewesen ist und nie werden wird. Wenn ich alles bereuen würde, was ich im Leben gemacht und allem nachtrauern, was ich unterlassen habe, würde ich wahnsinnig werden.«
»Das ist aber ein bisschen mehr als nur Nachtrauern. Das ist irgendwie Gefühllosigkeit und Rückgratlosigkeit, ein Armutszeugnis. Irgendwas, wodurch einem alles und jeder gleichgültig wird.«
Im Wohnzimmer klingelte das Telefon. Pálmi stand langsam auf und hob ab. Er sagte ein paar Mal ja und es endete damit, dass er sich zu etwas bereit erklärte.
»Das war dieser Sigurður Óli von der Kriminalpolizei. Sie haben Sigmar, aber sie bekommen kein Wort aus ihm heraus. Er hat aber gefragt, ob er mit mir reden könnte. Ich muss gleich los.«
Pálmi traf Vorkehrungen, dass er erst nach dem Mittagessen ins Antiquariat musste. Er wurde abgeholt und zum Hauptquartier in Kópavogur gebracht. Sigmar, Erlendur und Sigurður Óli saßen in einem kleinen Verhörzimmer. Erlendur ging zunächst mit Pálmi auf den Korridor und informierte ihn, wie sie Sigmar gefunden hatten. Es war einfach gewesen, nachdem sich herausgestellt hatte, dass er bei der Polizei kein Unbekannter war. Er hatte in regelmäßigen Abständen für diverse kleinere Straftaten eine Art kumulative Strafe bekommen, nichts davon war wirklich gefährlich oder aufsehenerregend: Urkundenfälschung, Scheckbetrug, Einbrüche in Kioske. Er war ein Versager auf der ganzen Linie, auch was seine kriminelle Laufbahn betraf. Er hatte seit seiner Jugend keinen festen Wohnsitz mehr gehabt und war in der Stadt ziemlich bekannt, weil er nicht selten in unterschiedlich angetrunkenem Zustand durch die Straßen Reykjavíks wankte und sich mit anderen Pennern herumtrieb. Die Kollegen von der Polizei hatten ihn sofort aufgespürt, nachdem sie von der ehemaligen Schule den vollen Namen erhalten hatten. Sie fanden ihn im Haus für Resozialisation, in dem er sich seit einigen Wochen aufhielt, nachdem er eine kürzere Gefängnisstrafe abgesessen hatte.
Jetzt saß er da und rauchte eine Zigarette, die Erlendur ihm gegeben hatte, und als Erlendur und Pálmi zurück in den Raum kamen, bestand er darauf, mit Pálmi allein zu sprechen. Erlendur erklärte, dass das nicht möglich sei.
»Steht er unter Verdacht?«, fragte
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