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Menschensoehne

Menschensoehne

Titel: Menschensoehne Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Arnaldur Indridason
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Pálmi durchfuhr ein Schauder. Er wich zurück, weil er glaubte, drinnen eine Bewegung gesehen zu haben. Jahrelang war diese Tür nicht geöffnet worden. Er war starr vor Schreck und brachte kein Wort heraus. Bevor er noch ins Treppenhaus laufen und um Hilfe rufen konnte, sah er einen untersetzten Mann aus dem Zimmer treten. Der Hilfeschrei erstarb ihm auf den Lippen, als dieser Mann ihm auf einmal bekannt vorkam. Als er ins Licht trat, sah Pálmi, dass es Jóhann war.
    »Jóhann«, stöhnte Pálmi völlig verwirrt. »Jóhann! Jóhann! Mein Gott, was hast du in diesem verdammten Zimmer gemacht? Wie bist du hereingekommen? Ich verstehe das nicht. Hast du alles mitgehört?«
    »Alles in Ordnung, Pálmi, hab keine Angst. Ich wollte mir das Zimmer ansehen, in dem Daníel versucht hat, dich anzuzünden. Ich hatte mich hingelegt. Ich bin heute Mittag gekommen und habe mich selbst hereingelassen. Du solltest das Zimmer renovieren, Pálmi. Ja, ich habe die Kassetten mitgehört, aber ich wusste das schon alles. Daníel hat mir alles erzählt.«
    »Aber wieso brichst du bei mir ein? Hat er dir schon alles erzählt? Warum hast du mir das denn nicht früher gesagt?«
    »Da ist etwas, das du wissen musst. Du hast die Angewohnheit, Pálmi, niemandem in die Augen zu blicken. Du schaust immer nach unten oder zur Seite, aber niemals blickst du den Leuten direkt in die Augen. Viele sind so, und das hängt meiner Meinung nach mit Hemmungen und Schüchternheit zusammen. Du hast nicht viel Selbstvertrauen, Pálmi. Das ist vielleicht auch nicht verwunderlich.«
    Jóhann setzte sich an den Esszimmertisch.
    »Aber selbst wenn du es bemerkt hättest, ist doch keineswegs sicher, ob du das zur Sprache gebracht hättest. Du bist ein sehr rücksichtsvoller Mensch, Pálmi. Vielleicht zu rücksichtsvoll.«
    Pálmi stand noch immer wie angewurzelt da und starrte Jóhann an. Jóhann hatte nie zuvor so mit ihm gesprochen, er verstand kein Wort.
    »Worüber redest du eigentlich, Jóhann?«
    »Über Augen.«
    Jóhann zwinkerte mit dem rechten Auge und kniff es ein paar Mal zusammen. Pálmi konnte kaum glauben, was er sah. Jóhanns rechtes Auge wurde aus der Augenhöhle herausgepresst und fiel ihm in die Hand. Er hielt die kleine Glaskugel zwischen den Fingern, um sie Pálmi zu zeigen, und warf sie ihm dann quer durchs Zimmer zu. Pálmi schnappte verwirrt danach und starrte auf Jóhanns Glasauge.
    Pálmi trat nun näher an ihn heran und blickte ihn zum ersten Mal an – und betrachtete die leere Augenhöhle.
    »Kiddi«, stöhnte er endlich. »Du bist gar nicht Jóhann. Du bist Kristján. Kiddi Kolke.«

Zweiunddreißig
    Elínborg hatte eine der Krankenschwestern ausfindig gemacht. Sie hieß Guðrún Klemenzdóttir. Zehn Leute waren damit beschäftigt gewesen, eine Liste mit den Namen der Krankenschwestern zu erstellen, die zwischen 1930 und 1935 geboren waren. Fünfzig Namen waren insgesamt notiert worden, und jeder Mitarbeiter hatte fünf Namen zugewiesen bekommen. Guðrún befand sich ganz oben auf Elínborgs Liste.
    Guðrún Klemenzdóttir lebte allein in einem Wohnblock im Westend von Reykjavík. Sie arbeitete immer noch als Krankenschwester und war gerade von einer Schicht nach Hause gekommen, als Elínborg klingelte.
    »Ja«, sagte eine metallisch klingende Stimme in der Gegensprechanlage.
    »Guðrún Klemenzdóttir?«
    »Ja. Wer ist da?«
    »Mein Name ist Elínborg, ich bin von der Kriminalpolizei. Wenn es dir nichts ausmacht, würde ich dir gern ein paar Fragen stellen wegen eines Falles, den wir bearbeiten.«
    Der Lautsprecher blieb stumm.
    »Guðrún? Bist du noch da?«
    »Entschuldige bitte, komm herauf«, sagte Guðrún. »Ich habe schon seit einigen Tagen mit euch gerechnet.«
    Sie drückte auf den Türöffner, und Elínborg betrat ein gepflegtes Treppenhaus. Als sie auf Guðrúns Etage angekommen war, sah sie die Tür zu ihrer Wohnung offen stehen und trat vorsichtig ein. Guðrún stand am Kleiderschrank in der Diele und zog sich gerade einen Mantel an. Sie war nicht sehr groß und ein wenig mollig, hatte schlohweiße, dünne Haare und ein freundliches Gesicht. Sie sah genauso aus wie die liebe Großmutter aus einem Märchen, dachte Elínborg.
    »Seit vielen Jahren habe ich vorgehabt, zu euch zu kommen«, erklärte sie. »Ich möchte lieber bei euch als in meiner Wohnung über diese Sache reden.«
    »Selbstverständlich«, erwiderte Elínborg und spähte in die Wohnung hinein, die ziemlich vernachlässigt aussah. Die Möbel waren alt und

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