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Menschensoehne

Menschensoehne

Titel: Menschensoehne Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Arnaldur Indridason
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gespielt wurde. Ich beschloss, unter dem Bett hervorzukriechen und einen Blick in die Küche zu wagen. Ich war immer noch auf dem Boden, falls ich wieder in mein Versteck zurückmüsste. Als ich endlich aufstand, fiel mein Blick auf den offenen Schrank, in dem der Anzug hing, den du immer in der Schule anhattest, und außerdem sah ich all diese Regale mit sorgfältig gebügelten und gefalteten weißen Oberhemden. Ich ließ sämtliche Vorsicht außer Acht, ging zum Schrank und befühlte diese strahlend weißen Hemden. Sie waren ganz weich und in der Tat das Einzige in deinem Haus, was wirklich sauber war. Und dann standest du auf einmal in der Tür. ›Weißt du, warum ich so viele weiße Hemden besitze, Daníel?‹, hörte ich dich hinter mir sagen. In meinem ganzen Leben habe ich mich nie so erschreckt. Am liebsten wäre ich auf der Stelle tot umgefallen.
    HALLDÓR: Entschuldige.
    DANÍEL: Du trugst einen roten Hausmantel und hattest ein Glas und eine Flasche Schnaps in der Hand. Findest du sie nicht schön, hast du gefragt. Du standest immer noch in der Tür. Es gab keinen Weg an dir vorbei, und komischerweise schienst du überhaupt nicht überrascht zu sein, mich da zu sehen. Du hast mir erklärt, dass du jedes Hemd nur einmal anziehst. ›Ich wasche sie selbst‹, hast du gesagt. ›Ich bügele sie sorgfältig, falte sie zusammen und lege sie akkurat in den Schrank. Das gewährt mir einen Seelenfrieden, den ich dir nur schwer erklären kann.‹ Ich stand vor dem Schrank und wusste nicht, was ich tun sollte. Das alles war mir entsetzlich unangenehm. Dann hast du gesagt, dass es mit deiner Jugend zusammenhinge. ›Ich hatte nie eine Jugend wie du und deine Freunde‹, hast du gesagt, ›und ich beneide euch darum, mehr als du jemals ahnen kannst. Sie wurde mir genommen.‹
    HALLDÓR: Genau darüber habe ich mein ganzes Leben lang nachgedacht, und über das Warum. Ich kam zu einem ganz simplen und vielleicht sogar logischen Ergebnis. Es war nichts als der pure Zufall. Schlicht und ergreifend Pech. Das war die einzige Erklärung. Es hatte nichts damit zu tun, was ich tat. Ich habe nie etwas getan. Und ich konnte nicht das Geringste dagegen machen. Einfach, weil ich in einem ganz bestimmten Augenblick gezeugt wurde und nicht in einem anderen, in einer bestimmten Gebärmutter und nicht in einer anderen.
    DANÍEL: Das steckte also hinter deiner Zufallstheorie, die du uns immer gepredigt hast.
    HALLDÓR: Warum wird der eine Mensch reich und ein anderer arm, Daníel? Warum stirbt dieses Kind an einer Krankheit, aber nicht ein anderes? Warum kommst du unters Auto und nicht die Person neben dir? Warum fällst du über Bord und nicht der andere Kerl in deiner Kajüte? Das ist einfach verdammtes Pech. Darüber denke ich tagtäglich nach. Über den Zufall. Er allein entscheidet über das Glück der Menschen, glaube mir, der pure verdammte Zufall. Wo kommt man auf die Welt und wann? Was man selbst tut, hat wenig zu sagen. Bitter wenig. Und wurde mir ein bisschen Anteil am Glück zuteil? Habe ich Glück gehabt? Nein, Daníel, nein, ich kann nicht sagen, dass ich jemals Glück gehabt habe. Es wäre eine Lüge, wenn ich behaupten würde, ich hätte Glück gehabt.
    DANÍEL: Du hast gesagt, dass du mich und meine Freunde beobachtet hast, wenn wir Fußball gespielt haben oder hinter den Mädchen hergerannt sind, gekreischt und gelacht haben. In deiner Erinnerung gäbe es aber kein einziges Lachen aus deiner eigenen Jugend. Nicht ein einziges verdammtes Mal hättest du einen Anlass dazu gehabt, wenigstens zu lächeln.
    HALLDÓR: Und auch später nie. Niemals, Daníel, niemals. Kannst du dir vorstellen, was das für ein Leben ist?
    DANÍEL: ›Eigentlich wollte ich nicht hier einbrechen, ich wollte nur nachsehen, ob du zu Hause bist‹, habe ich gesagt. Und dann habe ich gefragt, ob ich jetzt gehen dürfte. Ich hatte eine Scheißangst. ›Willst du nicht noch ein bisschen mit dem alten Halldór reden?‹, hast du geantwortet und mir den Arm um die Schultern gelegt, hast mich aus dem Zimmer geführt, durch die Küche ins Wohnzimmer, und mich auf einen Sessel gedrückt. Als wir an der Haustür vorbeikamen, spürte ich, wie dein Griff für einen Augenblick fester wurde. ›Wir sind doch Freunde, Daníel?‹, hast du gefragt und mir all deine Klassenfotos gezeigt. Du fühltest dich in ihrer Nähe offenbar wohl. ›All diese jungen Gesichter‹, hast du gesagt, ›man bekommt fast den Glauben an das Leben zurück.‹ Dein Lieblingsbild war

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