Menschensoehne
sagtest du. Du hast mich angefasst, und ich konnte deine Schnapsfahne riechen. Du hast gesagt, dass sie nicht nur all das in dir ermordet hätten, was du warst und hättest werden können, sondern dass sie auch dieses Untier in dich hineingesetzt hätten, mit dem du jeden Tag kämpfen müsstest, aber manchmal kämst du nicht dagegen an. Manchmal würde dieses Untier die Oberhand gewinnen.
HALLDÓR: Manchmal hat es sich sogar während des Unterrichts in meinem Kopf durchgesetzt, und ich habe keinen Widerstand geleistet. Dann konnte ich keinen klaren Gedanken mehr fassen. Und manchmal hast du auf seinem Schoß gesessen und gehört, wie es gesagt hat: Lausche der Stille.
DANÍEL: Du hast versucht, mich auszuziehen.
HALLDÓR: Verzeih mir, Daníel.
DANÍEL: Ich bin aber entwischt.
Schweigen .
HALLDÓR: Ich muss dich um einen Gefallen bitten, Daníel. Einen furchtbaren Gefallen, aber du bist der Einzige, den ich kenne, der das möglicherweise für mich tun kann. Seit vielen Jahren fühle ich mich so jämmerlich. Manchmal, wenn ich abends einschlafe, würde ich am liebsten nie wieder erwachen. Ich bin der reinste Abschaum, ich hätte nie auf die Welt kommen dürfen. Ich wurde in einem Stall gezeugt, das ist etwas ganz anderes, als in einem Stall geboren zu werden. Ein mieser Fick, und so ist mein ganzes Leben gewesen. Ich habe nie einen Vertrauten gehabt, keine Freunde außer meinen kleinen Schulkindern, und sogar die haben sich gegen mich gewandt. Im Gegensatz zu dir hätte ich mir nie vorstellen können, eine Familie zu haben und Kinder in die Welt zu setzen, Daníel. Vielleicht hätte es mir aber geholfen, das ist schwer zu sagen. Über diese Sache habe ich lange nachgedacht, und du verzeihst mir, wenn ich dieses Ansinnen an dich richte, aber ich denke, wir sind so gut befreundet, dass du mich ernst nimmst. Ich möchte, dass du meinem Leben ein Ende setzt.
Langes Schweigen .
HALLDÓR: Es ist keine große Sache. Ich bin doch sowieso schon seit Jahrzehnten lebendig tot. Es wäre übertrieben, wenn man das, woran ich mich aus lauter Gewohnheit klammere, ein Leben nennen würde. Ich wurde in Schande gezeugt, bin selber ein Schandfleck und lebe ein schändliches Leben. Aus diesem Teufelskreis komme ich nicht heraus. Ich bin das alles so unendlich leid. Jetzt will ich sterben, aber ich schaffe es nicht, Hand an mich zu legen. Ich habe es versucht. Deswegen bitte ich dich, mir zu helfen.
Langes Schweigen .
HALLDÓR: Daníel?
Schweigen .
DANÍEL: Da ist ein Mann, der es vermutlich tun könnte. Ich kann es nicht, verstehst du? Aber ich kenne einen Mann. HALLDÓR: Sag ihm, dass ich einen Kanister mit Benzin zu Hause aufbewahre. Sag ihm, er soll mich auf dem Stuhl in meinem Arbeitszimmer festbinden und mich mit Benzin übergießen. Wenn er den Kanister geleert hat, soll er mir ein brennendes Streichholz zustecken. Ich will, dass alles, was ich besitze, mit mir verbrennt, es darf nicht das Allergeringste übrig bleiben. Ich will nicht, dass irgendjemand nach meinem Tod in meinen Sachen herumwühlt, dass mein Privatleben breitgetreten wird. Ich habe keine Angst vor dem Feuer, das Feuer wird mich läutern, einen neuen Menschen aus mir machen.
Schweigen .
DANÍEL: Ich werde mit ihm reden.
Schweigen .
HALLDÓR: Ich habe dir hier meine Hemden mitgebracht. DANÍEL: Ich danke dir. Aber davon werde ich nichts haben. Ich bin selber im Aufbruch.
Schweigen .
DANÍEL: Ad astra.
Mehr war nicht auf der Kassette. Pálmi saß im Halbdunkel und starrte auf das Gerät. Ad astra, dachte er. Zu den Sternen. Daníel hätte Halldór nicht ermorden können, weil er bereits tot war, als Halldór in den Flammen umkam. Hatte er jemanden dazu überredet, Halldórs Bitte zu erfüllen? Wer war das? Zu wem hatte Daníel eine solche Verbindung? Sigmar? Pálmi saß lange da und dachte nach. Er begriff, dass Daníel zu diesem Zeitpunkt bereits entschlossen gewesen war, Selbstmord zu begehen.
Es war inzwischen stockdunkel in der Wohnung, und er knipste die kleine Lampe auf dem Tisch an. Er bemerkte nicht, dass sich die Tür zu seinem ehemaligen Zimmer etwas weiter geöffnet hatte. Pálmi hatte es so viele Jahre nicht mehr betreten, dass ihm die Existenz dieses Zimmers gar nicht mehr bewusst war. Während er auf das Gerät und die Kassetten starrte, spürte er auf einmal ganz stark, dass jemand in der Nähe war. Er sprang so heftig auf, dass der Stuhl umkippte. Er schaute in den Flur. Die Tür zu seinem alten Zimmer stand sperrangelweit auf, und
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