Menschliche Kommunikation
pragmatischen Kalküls zu postulieren, wenn seine spezifische Erstellung
zugegebenerweise eine Sache der fernen Zukunft ist? Unserer
Ansicht nach liegt die unmittelbare Nützlichkeit darin, dass dieser
Begriff ein wirkungsvolles Modell des Wesens und des Abstraktionsgrades jener Phänomene darstellt, die wir erforschen wollen.
Um unser Anliegen kurz zu wiederholen: Wir forschen nach
Erscheinungen pragmatischer Redundanz; wir wissen, dass diese
nicht einfache, statistische Größen oder Eigenschaften sind, sondern dem mathematischen Begriff der Funktion analoge Strukturen; und wir erwarten, dass diese Strukturen die allgemeinen
Merkmale von rückgekoppelten, zielstrebigen Systemen haben.
Wenn wir von diesen Gesichtspunkten aus an Kommunikationsabläufe zwischen zwei oder mehreren Teilnehmern herangehen,
so dürfen wir annehmen, schließlich bei gewissen Resultaten
anzukommen, die zwar noch keinen Anspruch darauf erheben
können, ein formales Begriffssystem darzustellen, die aber ihrem
Wesen nach zumindest weitgehend den Axiomen und Lehrsätzen
eines Kalküls entsprechen.
In ihrem oben erwähnten Werk beschreiben Nagel und Newman die Analogie zwischen einem Spiel wie Schach und einem
formalen mathematischen Kalkül. Sie zeigen dabei, wie die Stellungen der Schachfiguren als solche «bedeutungslos» sind, während Aussagen über diese Stellungen sehr wohl einen Sinn haben.
Sie führen u. a. aus, dass
allgemeine «Metaschach»-Theoreme erstellt werden können, deren
Nachweis nur eine endliche Zahl erlaubter Positionen auf dem Schachbrett erfordert. Das «Metaschach»-Theorem von der Zahl der möglichen
Eröffnungszüge von Weiß kann auf diese Weise konstruiert werden; und
ebenso das «Metaschach»-Theorem, dass Weiß ein Schachmatt nicht erzwingen kann, wenn es nur seine zwei Türme und den König und
Schwarz nur seinen König hat [106, S. 35].
Wir haben etwas länger bei dieser Analogie verweilt, weil sie den
Begriff des Kalküls nicht nur in der Metamathematik, sondern
auch in der Metakommunikation veranschaulicht. Wenn wir nämlich die beiden Spieler selbst in die Analogie einbeziehen, haben
wir es nicht mehr mit einem abstrakten Spiel zu tun, sondern mit
den Abläufen einer menschlichen Wechselbeziehung, die einer
strengen, komplexen Gesetzmäßigkeit folgen. Der einzige Unterschied ist der, dass wir den Ausdruck «formal unentscheidbar»
dem von Nagel und Newman verwendeten «bedeutungslos» vorziehen, wenn wir von einer einzelnen Verhaltensform (einem
«Zug» in der Schachanalogie) sprechen. Eine solche Verhaltensform, a, mag ihre Ursache in einem Lotterietreffer, dem Ödipuskonflikt, im Alkohol oder in einem Gewitter haben - jede Debatte
darüber, was ihr «wirklicher» Grund ist, kann nur einer scholastischen Disputation über das Geschlecht der Engel ähneln. Solange
sich das Psychische nicht von außen her rein objektiv erforschen
lässt, müssen wir uns mit Rückschlüssen und Selbstschilderungen
begnügen - und beide sind bekanntlich von geringer Verlässlichkeit. Wenn wir aber feststellen können, dass einem Verhalten a -
was immer seine «Ursachen» sein mögen - stets ein Verhalten b, c
oder d des Partners folgt, während es anscheinend ein Verhalten x,
y oder z ausschließt, so kann davon auf eine metakommunikative Regel geschlossen werden. Was wir damit im weiteren Sinn
vorschlagen, ist, dass sich alle Wechselbeziehungen in Begriffen
der Spielanalogie verstehen lassen, also als Folgen von «Zügen»,
die festen Regeln unterworfen sind; Regeln, bei denen es letztlich
belanglos ist, ob sie den aufeinander bezogenen Individuen bewusst oder unbewusst sind, aber über die sinnvolle metakommunikative Aussagen gemacht werden können. Damit postulieren
wir, wie bereits in Abschnitt 1.4 angedeutet, dass hinter den myriadenfachen Erscheinungen der menschlichen Kommunikation ein
noch nicht interpretierter pragmatischer Kalkül steht, dessen Axiome in erfolgreicher Kommunikation berücksichtigt, in pathologischer Kommunikation dagegen gebrochen werden. Das Vorhandensein eines solchen Kalküls lässt sich beim gegenwärtigen Stand unseres Wissens mit dem eines Sterns vergleichen, dessen Existenz
und Position von der theoretischen Astronomie postuliert wird,
von den Sternwarten jedoch noch nicht nachgewiesen ist.
Philosophisch gesehen, scheint die hier dargelegte Art der
Erforschung von Zusammenhängen einen Extremfall des von Jaspers definierten Erklärens
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