Menschliche Kommunikation
Aber eben diese Logik
wird, wie im nächsten Kapitel gezeigt werden soll, in menschlichen Beziehungen immer dann angewandt, wenn sowohl Person
A als auch Person B behaupten, nur auf das Verhalten des anderen
zu reagieren, ohne einzusehen, dass sie mit dieser Reaktion den
anderen genauso beeinflussen wie er sie. Nicht anders steht es mit
der hoffnungslosen Streitfrage, ob die Kommunikationsformen
einer bestimmten Familie pathologisch sind, weil ein Familienmitglied psychotisch ist, oder ob dieses Individuum psychotisch
ist, weil die Kommunikationen pathologisch sind. Wie noch zu
beweisen sein wird, haben Kommunikationsstrukturen, sobald sie einmal zustande gekommen sind, ein Eigenleben, demgegenüber die einzelnen Individuen weitgehend machtlos sind.
1.66 Die Relativität von «normal» und «abnormal». In der Frühzeit der modernen Psychiatrie wurde Forschung fast ausschließlich in Anstalten betrieben und befasste sich vor allem mit der
Klassifizierung von Patienten. Dies führte zu bedeutsamen Erfolgen, wie z. B. zur Entdeckung der progressiven Paralyse und
ihrer Behandlung. Einer der nächsten Schritte war die Übernahme moderner Unterscheidungen zwischen «normal» und «abnormal» in die Rechtssprache, und zwar in Form der Begriffe
«zurechnungsfähig» oder «unzurechnungsfähig». Bekanntlich
unterliegt der Sinn all dieser Begriffe und Unterscheidungen heute
zunehmender Kritik, deren stichhaltigstes Argument zweifellos
dies ist, dass in Ermangelung einer brauchbaren Definition psychischer Normalität auch der Begriff der Abnormität undefinierbar ist. Es mehren sich die Stimmen, die die Übernahme des medizinischen Krankheitsmodells in den Kreis der funktionellen
seelischen Störungen für grundsätzlich verfehlt halten. Wie dem
auch sei, vom Standpunkt der Kommunikationsforschung ist die
Einsicht unvermeidbar, dass jede Verhaltensform nur in ihrem
zwischenmenschlichen Kontext verstanden werden kann und
dass damit die Begriffe von Normalität oder Abnormalität ihren
Sinn als Eigenschaften von Individuen verlieren. Wer sich je mit
der Psychotherapie der funktionellen Psychosen befasst hat, weiß,
dass der sogenannte Geisteszustand des Patienten durchaus nicht
statisch ist, sondern sich mit der zwischenpersönlichen Situation
ändert und daher auch weitgehend von der Haltung des Therapeuten oder Forschers abhängig ist. Psychiatrische Symptome
müssen in monadisch isolierter Sicht abnormal erscheinen; im
weiteren Kontext der zwischenmenschlichen Beziehungen des
Patienten gesehen, erweisen sie sich jedoch als adäquate Verhaltensweisen, die in diesem Kontext sogar die bestmöglichen sein
können. Die Bedeutung der Einbeziehung des Zwischenmenschlichen kann kaum überschätzt werden. «Schizophrenie», als unheilbare schleichende Geisteskrankheit eines Individuums
definiert, und «Schizophrenie», als die einzig mögliche Reaktion
auf einen absurden und unhaltbaren zwischenmenschlichen Kontext verstanden (eine Reaktion, die den Regeln dieses Kontextes
folgt und ihn daher zu verewigen hilft), sind zwar ein und dasselbe
Wort und beziehen sich auf ein und dasselbe klinische Bild - die
ihnen zugrunde liegenden Krankheitsauffassungen aber könnten
kaum unterschiedlicher sein. Nicht weniger unterschiedlich sind
die sich daraus ergebenden Implikationen für Ätiologie und
Therapie.
2.1 Einleitung
Die im 1. Kapitel gezogenen Schlussfolgerungen haben ganz allgemein die Anwendbarkeit vieler herkömmlicher Begriffe der
Psychiatrie auf das von uns gewählte Begriffssystem in Frage
gestellt und dabei offensichtlich wenig übrig gelassen, worauf
sich eine Untersuchung der Pragmatik der menschlichen Kommunikation gründen könnte. Wir möchten im Folgenden zeigen,
dass dem nicht so ist. Dazu wird es allerdings notwendig sein, mit
den einfachsten Eigenschaften der Kommunikation zu beginnen,
die im Bereich des Zwischenmenschlichen wirksam sind. Ob
diese Grundeigenschaften wirklich als Axiome des von uns postulierten pragmatischen Kalküls angesprochen werden dürfen, ist
beim gegenwärtigen Stand unseres Wissens eine offene Frage.
In diesem Sinne handelt das vorliegende Kapitel also von provisorischen Formulierungen, die weder Anspruch auf Vollständigkeit noch auf Endgültigkeit erheben können. Ihrer theoretischen Schwäche können wir aber ihre praktische Nützlichkeit
gegenüberstellen.
2.2 Die Unmöglichkeit, nicht zu kommunizieren
2.21 Bisher haben wir den Ausdruck
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