Mephistos Erben: Kriminalroman (German Edition)
begreifen lernen?
Sie musste an Alexander denken, der gerne abgeschweift war, wenn er ihr bei den Hausaufgaben half, und der von der griechischen My t hologie erzählt hatte. Die Geschichte von Ödipus und dem vorbestimmten Schicksal, das sich trotz aller menschlichen Bemühungen, ihm zu entgehen, unausweichlich erfüllte. Laios, der König von Theben, hatte seinen kleinen Sohn Ödipus mit durchstochenen Fersen in der Wildnis aussetzen lassen. Ihm war geweissagt worden, sein eigener Sohn werde ihn einst töten. Jahre später traf der erwachsene Ödipus einen Fremden, mit dem er in Streit geriet und den er schließlich erschlug. Es war sein Vater.
Sie hatte mit Johannes stundenlang darüber diskutiert, ob der Vater, wenn er seinen Sohn bei sich behalten hätte, ebenfalls von ihm erschlagen worden wäre, und ob nicht dieses Vermeiden und Ausweichen geradezu der Erfüllungsgehilfe des Schicksals gewesen war.
Susanna rückte auf der Parkbank ein wenig zur Seite, um aus dem Schatten wieder in die Nachmittagssonne zu gelangen, die etwas Wärme spendete. Sie fror immer noch sehr leicht.
Der Tod als Reiter hatte sie erschüttert. Doch sie wunderte sich auch, dass jedes Mal nach einer solchen Zusammenkunft ein friedliches Gefühl sich in ihr ausbreitete, ein Wohlbefinden, das sie sonst kaum kannte. Ob es den anderen genauso erging? Ihr jedenfalls gab es Hoffnung. Sie warf einen Blick auf ihre Armbanduhr.
Sie stand auf und ging zum Gebäude zurück. Auf keinen Fall wollte sie die Zusammenkünfte zu Meditation und Gebet versäumen. Später am Abend würde sie einen Brief an ihren Bruder schreiben.
Drei Tage später hatte das närrische Treiben Mainz verlassen. Erfreulicherweise zeigte das Rheinufer zwischen den schmutzig-gelbbraunen Gräsern des letzten Herbstes schon vereinzelt zartgrüne Halme. Die Stimmung der meisten Patienten besserte sich ebenfalls, und Lea fuhr nach der morgendlichen Runde mit Lilly optimistisch in die Praxis. Die Augustinerstraße war wie alle Straßen wieder vom Müll befreit. Im Wartezimmer saßen bislang nur zwei Patienten.
Lea hatte Ullrich vom Vorfall in der Uniklinik erzählt; es war ihm gelungen, sie etwas zu beruhigen. »Lea, du brauchst dich nicht zu wundern, bei der Angst um Marie und dem Anblick eines Patienten, der festgehalten wird …«,
»… und der Spritze«, ergänzte Lea, »meinst du wirklich, dass es nichts weiter zu bedeuten hat?«
»Ja, das meine ich, mach dich nicht verrückt.«
»Ich werde es versuchen.«
Sie hatte sich daraufhin bemüht, nicht mehr an den Vorfall zu denken, und legte das Ereignis zumindest vorübergehend unter der Rubrik »außergewöhnliche Stressreaktion« ab.
Johanna hatte die Ausnüchterungsprozedur, wenn auch unter gewissen Qualen, überstanden und sich angeblich geschworen, nie wieder ein Glas Alkohol anzurühren. Leas Tochter Marie war von den Erfahrungen in der Notaufnahme ebenfalls so anhaltend beeindruckt, dass Lea jetzt von einem andauernden Misstrauen gegen Pillen und Wodka-Mix ausgehen konnte, und da sich auch Frederike die Story wieder und wieder erzählen ließ, konnte der abschreckende Effekt durchaus mit dem Faktor zwei multipliziert werden.
Frau Witt räusperte sich und wies mit dem Kinn in Richtung Wartezimmer. »Frau Glössner wartet.«
»In Ordnung, ich werde mich mit der Post beeilen, sie kommt sofort dran.«
Im Schnelldurchgang überflog Lea die Absender. Es war der dritte Brief zwischen den Unmengen an Werbesendungen, Fachzeitschriften und Befundberichten von Kollegen. Sie drehte den Umschlag aus cremefarbenem Büttenpapier, der zwischen der üblichen Post herausstach, um und starrte auf den Absender. Johannes van der Neer stand dort in elegant geschwungenen Buchstaben.
Sehr geehrte Frau Dr. Johannsen,
ich habe Ihnen den Brief von Susanna beigelegt, den sie mir knapp drei Wochen vor ihrem Tod geschrieben hat. Er ist bei einem Kollegen im Fach gelandet, der leider vier ganze Monate in unserer Missionsstation in Südindien war, so dass ich den Brief erst jetzt erhielt.
Ich hoffe, es ist nicht zu bedrängend für Sie, wenn wir Sie mit Susannas Leben konfrontieren. Aber ich glaube bemerkt zu haben, dass Sie großen Anteil an Susannas Schicksal nehmen.
Mit freundlichen Grüßen
Johannes van der Neer
Lea faltete den beigelegten Brief auseinander. Den Brief einer Toten an ihren Bruder.
Mainz, den 26. September
Lieber Johannes,
über mein Leben brauche ich dir nichts zu sagen, über vieles bist du ohnehin
Weitere Kostenlose Bücher