Mephistos Erben: Kriminalroman (German Edition)
vorhandene Familienzugehörigkeit auf, was der junge Kollege nur mit einem Schulterzucken quittierte; bei dem unüberschaubaren Strom von Patienten waren ihm die verwandtschaftlichen Verhältnisse mehr als gleichgültig. Er überprüfte Johannas Puls und Blutdruck und fuhr mit seinem Stethoskop unter ihren Pullover, um beide Lungenflügel abzuhören. »Keine Aspiration«, murmelte er in den Raum. Mit einem Blick auf den Rest in der Infusionsflasche drehte er das Rädchen, das den Zulauf regelte, weiter auf, so dass die Tropfen in schnellerer Abfolge über den Plastikschlauch in Johannas Vene liefen.
»Doktor Bechthold, schnell in die Zwei!«
Kurz nachdem die Schiebetür zum dritten Mal aufgerissen worden war, eilte der Arzt hinaus. Lea zog die Schiebetür wieder zu.
»Meinst du, Johanna ist bald wieder fit?«, fragte Marie.
Lea betrachtete die Freundin ihrer Tochter. »Ich denke schon. Morgen wird ihr der Schädel brummen, aber vielleicht ist das ja ein Denkzettel.«
Nachdem sie verabredet hatten, dass Marie noch eine Weile bei Johanna bleiben würde, ging Lea zurück zum Ausgang. Kurz bevor sie diesen erreichte, kam sie an einem Raum vorbei, dessen Tür weit aufgeschoben war. Drinnen stand Doktor Bechthold neben einer Liege, und Leas Blick wurde von einem Gegenstand in seiner Hand angezogen – einer Spritze mit gelblichem Inhalt. Der Arzt näherte sich dem Patienten, den zwei Rettungssanitäter festhielten.
»Kontinuitätsdelir, pathologischer Rausch, den Psychiater anfunken, medikamentöse Erstbehandlung«, diktierte Doktor Bechthold der Schwester.
»Lasst mich los, ihr Scheißkerle, das könnt ihr nicht machen, loslassen!«
Der Patient wand sich, hochgradig erregt, unter dem festen Griff der Sanitäter.
Lea erstarrte. Ihr Herzschlag beschleunigte sich, und sie spürte ihre Beine weich werden. Sie musste sich an die nicht mehr ganz weiße Wand im Gang anlehnen, um nicht umzukippen. Niemand schien zu bemerken, wie sie so an der Wand stand, nach Atem rang und gegen das Umfallen ankämpfte. Der Gang erschien ihr mit einem Mal als unwirkliches Gebilde, in dem sich Personen wie in Zeitlupe bewegten.
Langsam ein- und ausatmen!
Das Schwindelgefühl ließ etwas nach, doch sicherheitshalber blieb sie noch an die Wand gelehnt stehen. Was war das denn gewesen?
»Vorsicht, junge Frau!« Ein Krankenpfleger versuchte, einen Patienten mit Kopfverband auf einer Trage durch den überfüllten Gang zu schieben.
Langsam verließ Lea ihren Platz an der Wand und setzte, als sie das Gefühl hatte, ihre Beine vermochten ihren Körper wieder zu tragen, ihren Weg zum Ausgang fort.
Die frische Februarluft half ihr, ihre körperliche und psychische Reaktion wieder gänzlich unter Kontrolle zu bekommen. Frierend zog sie den Mantel enger um den Körper. Ein schönes, ein normales Gefühl.
Dennoch konnte sie die eigenartige Empfindung, die sich bei ihr eingenistet hatte, nicht beiseiteschieben. Weder die Massenveranstaltung noch die Sorge um Marie hatten diese Panikattacke bei ihr ausgelöst, sondern der Anblick dieses Mannes, der gegen seinen Willen eine Spritze bekommen sollte. Gegen seinen Willen! Dieser Gedanke blieb in einem Winkel ihres Gedächtnisses haften. Die feste Schicht, die sich über ihrer Erinnerung abgelagert hatte, bekam einen Riss. Die anfänglich feine Linie wurde unaufhaltsam breiter, schaffte eine Öffnung. Die ersten Worte, die einen Gedanken bilden würden, drängten, noch nicht ausgesprochen, hervor.
»Und? Wo ist Marie?«, fragte Jonas, als Lea sich hinter das Steuer ihres Wagens setzte.
Die Bank stand weit im Inneren des großen Parks. Susanna saß alleine dort, betrachtete die weißen Mauern, die sich leuchtend vom dunklen Hintergrund des Waldes abhoben. »Das kalte Herz«, dachte sie, »… im grünen Tannenwald, bist schon viel hundert Jahre alt …«
Ihr wollte nicht einfallen, was es gewesen war im dunklen Tannenwald. Ein Zauberer, ein Zwerg, ein Gnom?
Sie hatte gerne Märchen gelesen. Doch der dunkle Tannenwald, das Herz aus Stein als Tausch gegen das echte Herz, das hatte sie beunruhigt.
Ein lautes Krächzen über ihr zerriss die Stille. Eine Krähe hatte sich auf einen dünnen Ast gesetzt, der unter ihrem Gewicht heftig schwankte.
»Man bekommt immer das Schicksal, das man am dringendsten vermeiden möchte«, hatte Marcion gesagt.
War der Tod deshalb zu ihr gekommen?
Susanna dachte an die letzte Karte. Der Tod, der alles Vertraute raubte, ihn sollte sie als Helfer auf ihrem Weg
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