Mephistos Erben: Kriminalroman (German Edition)
Leben und Tod! Ich weiß, das klingt zynisch. Weißt du, wie häufig ich bei der Offenbarung mit dem Teufel konfrontiert wurde?
Nach dem Teufel kam der Tod. Ich habe gelernt, dass Altes sterben muss, damit Neues entsteht. Ich komme mir allerdings vor wie ein Baumstumpf (um bei meinem zuvor gewählten Bild des Waldes zu bleiben), der verfault ist, von innen heraus, aus dem eben nichts Neues wächst. Für dieses Gefühl gab es in den Workshops früher niemals einen Platz.
Im ISG habe ich gelernt zu meditieren und zu beten. Nach den Zusammenkünften, die ähnlich feierlich sind wie bei Euch in der Heiligen Messe, fühle ich mich gelöst. Gegen Ende unserer Treffen verschwimmt die Umgebung, und ich habe das Gefühl, ich löse mich in weißem Licht und Wärme auf. Du weißt, wie ich friere. Diese Wärme ist unglaublich.
Ich lerne, meinen Weg anzunehmen und nicht andere für alles Widrige verantwortlich zu machen. Die Erfahrung, dass wir ein kleines Rädchen im Weltgeschehen sind, gibt mir eine eigenartige Ruhe. Wenn wir nicht so bedeutend sind, ist unser Unglück es auch nicht. Kann man das so einfach sehen, mein lieber Bruder?
Wie auch immer, ich blicke nach vorne. Marcion gibt mir Hoffnung. Wir können auf die Sinnhaftigkeit unseres Weges vertrauen, wir gehen die Wege zurück, und ich erkenne die Wahrheiten, die für mich verborgen waren. Marcion ist der Vorbote eines anderen Lebens, er bringt mir Frieden.
Vielleicht nimmt ja doch noch alles ein gutes Ende.
Ich liebe dich.
Susanna
Lea saß vor dem Brief. Schrieb so jemand, der sich das Leben nehmen wollte? Ratlos wählte sie die Nummer von Johannes van der Neer, um sich für die Zusendung des Briefes zu bedanken. Noch während sie wählte, wurde ihr klar, dass sie zum Inhalt des Schreibens nichts würde sagen können.
Als sie die Ansage des Anrufbeantworters hörte, war sie beinahe erleichtert. Sie sprach routiniert ihren Text – erstaunlich, wie man sich schon daran gewöhnt hatte, mit einer Maschine zu sprechen –, in dem sie Johannes van der Neer um einen Rückruf bat.
Einige Minuten saß sie an ihrem Schreibtisch und lauschte der Betriebsamkeit eines normalen Praxisalltages. Schließlich drückte sie auf den Knopf der Sprechanlage und bat Frau Witt, die Patientin in das Sprechzimmer zu schicken.
Frau Glössner saß kurz darauf vor ihr. Ziemlich aufgebracht. »Frau Doktor, hören Sie mal, noch einmal bekommen Sie mich nicht in die Psychiatrie, das können Sie vergessen. Hier, sehen Sie sich mal das an!« Die kräftige Patientin, die ihre schwarze Lederjacke mit eindrucksvollen Nieten anbehalten hatte, lehnte sich über den Schreibtisch, schob den rechten Ärmel nach oben und zeigte Lea mit vorwurfsvoller Miene ihren blau verfärbten Arm. »Alles von den Spritzen, Haloperidol, Psyquil und wie das ganze Chemiezeug sich schimpft.« Ein kreisrunder dunkelblaugrüner Bluterguss hob sich mit scharfem Kontrast von der hellen Haut in der Ellenbeuge ab.
Lea starrte auf die Verfärbung. Plötzlich, ohne Vorwarnung, erfasste sie erneut dieses Schwindelgefühl, das sie schon in der Uniklinik überkommen hatte. Reflexartig griff sie nach der Schreibtischplatte, um es in den Griff zu bekommen. Sie musste raus, sofort!
Lea suchte krampfhaft nach einer Ausrede. Wenn Frau Glössner ihren merkwürdigen Zustand begriff, würde das rasch die Runde machen.
»Moment bitte, ich bin gleich zurück, ich muss Ihren Entlassungsbrief bei der Anmeldung ausdrucken.«
Dieser Vorwand schien glaubwürdig, denn Frau Glössner verzichtete vorläufig auf die Fortsetzung ihrer Beschwerde. Lea zog sich an der Schreibtischplatte hoch und schaffte es, mit halbwegs sicherem Schritt das Sprechzimmer zu verlassen. Sie winkte Nora hinter sich her in den Sozialraum, setzte sich und trank begierig ein Glas Wasser. Als sie es absetzte, ließ das Schwindelgefühl etwas nach. Nora blickte besorgt auf sie herab.
»Nora, bitte seien Sie so gut und sagen Sie Frau Glössner, die in meinem Sprechzimmer sitzt, dass der Entlassungsbericht doch noch nicht da ist. Wir verschreiben ihr erst mal die letzte Medikation, die sie vertragen hat. Und nächste Woche möchte sie noch mal vorbeikommen.«
Nora schaute Lea überrascht an. Direkte Anweisungen zu therapeutischen Inhalten überließ man ihr selten.
»Geht es Ihnen nicht gut?«
»Ich weiß auch nicht, mir ist plötzlich schwindlig geworden. Aber jetzt geht es schon besser.«
»Wirklich?« Nora betrachtete zweifelnd das blasse Gesicht ihrer
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