Mephistos Erben: Kriminalroman (German Edition)
versuchte. Sie verkrampfte sich innerlich immer stärker und steigerte sich in extreme Schuldgefühle über ihre vermeintlich unverzeihlichen Verfehlungen.« Johannes van der Neer bemerkte Leas irritierten Gesichtsausdruck bei dem Wort Verfehlung. »Wissen Sie, wir wurden nicht streng religiös erzogen, doch je länger die Abtreibungen und die damaligen Lebensumstände zurücklagen, desto dramatischer empfand Susanna ihr früheres Leben als Sünde und bereute Entscheidungen, die sie getroffen hatte. Auch die Abwendung von unseren Eltern und der Tod unserer Mutter, der eine Versöhnung unmöglich machte, waren für sie eine unerträgliche Bürde.«
»Was ist mit Ihrem Vater?«, fragte Lea.
»Er ist in einem Seniorenwohnheim in der Nähe von Passau untergebracht. Er leidet unter fortgeschrittener Demenz. An guten Tagen weiß er, dass ich sein Sohn bin.« Johannes van der Neer machte eine Pause und trank einen Schluck von seinem Kaffee.
»Um welche ihrer Entscheidungen ging es noch?«
»Verschiedene, aber die Frage ist auch, ob es überhaupt ihre Entscheidungen waren«, schaltete sich Alexander van der Neer ein. »Wir haben uns darüber unterhalten, Johannes und ich. Susanna war wohl in vielerlei Hinsicht begabt, aber nicht darin, andere Menschen richtig einzuschätzen. Beeinflussbar war sie und von einer geradezu naiven Leichtgläubigkeit, zumindest zu der Zeit, als die Probleme anfingen.«
»Begannen die Schwierigkeiten in der Zeit, von der Sie mir erzählt haben?«, fragte Lea vorsichtig nach und sah Alexander van der Neer dabei an.
»Ja, eigentlich schon. Mit dem erwähnten Auftauchen Ellen Jabowskis in unserem Leben.«
»Ich erinnere mich«, sagte Lea.
Alexander van der Neer nahm den Gesprächsfaden dort wieder auf, wo er bei ihrer letzten Begegnung abgerissen war.
»Nun ja … die Situation in meinem Zimmer … mit Ellen. Selbst als Zweiundzwanzigjähriger, mit wenig Lebenserfahrung, erlebte ich sie als kalt und berechnend. Ich sagte ihr, sie solle mein Zimmer verlassen. Doch zunächst reagierte sie nicht, als hätte ich nicht mit ihr gesprochen. Als ich meine Aufforderung wiederholte, wurde sie furchtbar wütend, schrie mich an, ich glaubte wohl, ich sei etwas Besseres, ich würde es noch bereuen. Sie zeterte und schimpfte, die ganze Familie hielte immer die Nase hoch, Bonzenpack und so weiter. Ich habe sie dann zu guter Letzt aus meinem Zimmer hinausschieben können und dachte, damit wäre die Angelegenheit erledigt. Glücklicherweise waren meine Eltern an diesem Abend auf einer Premiere in der Oper, und so wurde ihnen dieser peinliche Auftritt erspart.«
Alexander van der Neer holte tief Luft. Man sah ihm an, dass dieses Ereignis ihn auch nach fünfundzwanzig Jahren noch beschäftigte.
»Wissen Sie«, fuhr er fort, »ich habe es all die Jahre später nie wieder erlebt, dass ein Mensch derartig schnell sein Gesicht wandelt. Dieser Hass, diese Wut, die plötzlich aus Ellen herausbrach, waren beängstigend. Wenn ich geahnt hätte, was Ellen mit unserer Familie anstellen würde, hätte ich sie nicht nur vor die Zimmertür, sondern vor die Haustür gesetzt.«
»Das hätte Ellen wahrscheinlich auch nicht daran gehindert, ihr Vorhaben, von dem wir damals noch nichts wussten, umzusetzen«, versuchte Johannes van der Neer seinen Bruder zu beruhigen.
»Vielleicht hast du recht«, sagte dieser. Es klang aber nicht ganz überzeugt. »Im Rückblick auf die Vergangenheit sind wir beide zu der festen Überzeugung gelangt, dass Ellen Susanna von uns fortlocken wollte. Warum, wissen wir nicht. Aber die Zielstrebigkeit, mit der sie Susanna manipuliert hat, lässt aus unserer Sicht keinen anderen Schluss zu.« Alexander van der Neer erzählte weiter, während um sie herum die Menschen ihren Kaffee tranken, Kuchen aßen und sich über das Wetter, die Politik oder ihre Einkäufe unterhielten. »Ellen muss nach diesem Abend, an dem ich sie vor die Tür gesetzt hatte, Susanna erzählt haben, dass ich sie vergewaltigen wollte und sie mich nur mit Mühe hätte abwehren können. Sie war sehr geschickt, das muss man ihr lassen. Sie sagte zu Susanna, ich würde meine Tat, meinen Überfall auf sie, sicher leugnen, und warb so tränenreich um Beistand, dass Susanna kaum noch anders konnte, als diese Lügen für wahr zu halten. Außerdem hätte ich ihr angeblich ein Perlenarmband vom Arm gerissen. Tatsächlich fand Susanna einige von diesen Perlen in meinem Zimmer. Ich vermute, dass Ellen auch dafür verantwortlich war. Jahre
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