Mephistos Erben: Kriminalroman (German Edition)
hatten, und standen vor einem verwahrlosten Gebäude mit Graffiti-Schmierereien an der Hauswand. Namensschilder gab es keine, oder sie waren unleserlich. Ich drückte auf irgendeinen Klingelknopf. Die Tür wurde nach dem dritten Anlauf ohne Rückfrage geöffnet. Wir gingen im Treppenhaus nach oben in der irrigen Annahme, Susannas Namen an einer der Wohnungstüren zu finden. Nachdem wir ohne Erfolg im obersten Stockwerk angelangt waren, entschied ich mich, im zweiten Stockwerk an einer Tür zu klingeln, an der mehrere Namen standen. Eine junge Frau mit einem lila Turban um den Kopf öffnete uns mit einer Flasche Sekt in der Hand und sagte deutlich alkoholisiert ›Hi, Schätzchen‹ und mit Blick auf meinen Vater ›Na, Opa, habt ihr euch verlaufen? Das Altersheim ist auf der anderen Seite der Straße‹. Sie lachte über ihren eigenen Witz und verschwand wieder im Flur, ohne die Tür zu schließen. Mein Vater und ich betraten dann einfach unaufgefordert diese fremde Wohnung. Ich habe in meinem ganzen Leben nie wieder solch eine Wohnung gesehen. Überall lagen leere Flaschen herum, Gläser, Teller standen auf dem Fußboden, teils leer, teils noch mit Essensresten darauf. Aus einem großen Zimmer dröhnte die laute, undefinierbare Musik, zu der sich mehrere Frauen wie in Trance bewegten. Eine Gruppe saß auf dem Fußboden im Kreis und reichte einen Joint herum. Vater trat auf einen jungen Mann zu, der in der Mitte der Gruppe auf dem Fußboden saß, tippte ihm auf die Schulter und fragte ihn nach Susanna. Der sagte ›Soweit ich den Überblick nicht verloren habe, und das geht manchmal ganz schnell, gehört unsere Susanna im Moment gerade Gero oder vielleicht auch Markus oder vielleicht beiden. Hast du mich verstanden, Alter?‹ Mein Vater fasste den Mann an der Schulter und fragte: ›Wo ist sie?‹ Der Mann sagte: ›Na, da hinten.‹ Er deutete mit dem Daumen in Richtung eines Zimmers, dessen Tür verschlossen war. Mein Vater ging auf die Tür zu und öffnete sie. Susanna lag ohne Kleider auf einem Bett und war in irgendeine ferne Welt abgetaucht, jedenfalls blickten ihre Augen ins Leere, ohne etwas Bestimmtes zu fixieren. Am Rand des Betts zog sich ein Mann gerade die Jeans hoch, während neben Susanna ein anderer Mann auf dem Bett lag und eine Zigarette rauchte. Der Typ, der im Bett lag, reagierte als Erster, als die Tür geöffnet wurde. Er schrie so was wie ›Was soll der Scheiß hier, zieht Leine, los, raus! Mensch, Gero, schaff die hier weg!‹ Dieser Gero hatte seine Jeans nun zugeknöpft, stand auf und wollte meinen Vater am Arm ziehen. Dann ging alles ganz schnell. Mein Vater, der in seinem Leben noch keinen anderen Menschen auch nur beschimpft hatte, schrie geradezu unmenschlich, wehrte die Hand ab, stieß diesen Gero aufs Bett und drückte ihm mit beiden Händen die Kehle zu. Der Mann mit der Zigarette schrie in meine Richtung, ich solle den durchgeknallten Irren rausschmeißen, der gehöre in die Klapse. Ich stand völlig fassungslos in der Tür. Schließlich packte ich meinen Vater von hinten an den Armen, zog ihn vom Bett weg und sagte ›Komm, lass uns gehen! Wir nehmen Susanna mit‹. Das schien ihn zu erreichen. Wir zogen ihr notdürftig einige von den Kleidungsstücken an, die auf einem Stuhl lagen, und trugen Susanna aus der Wohnung. Es schien niemanden zu interessieren. Wir brachten sie nach Hause. Vater hatte gemeint, wir sollten am nächsten Tag mit ihr über alles sprechen.«
»Und?«, fragte Lea.
»Es kam nicht dazu. Susanna hat nur diese eine Nacht noch zu Hause verbracht. Am nächsten Morgen, als wir nach ihr sehen wollten, war sie verschwunden.«
»Hm.« Lea lehnte sich zurück und dachte an Marie.
Johannes van der Neer schloss die Augen, als er weitersprach. »An diesem Tag ist meine Mutter zum ersten Mal mit einer Herzattacke ins Krankenhaus eingeliefert worden.« Die Erinnerung an die Ereignisse dieser Nacht nahm ihn sichtlich mit, aber es drängte ihn danach, die Geschichte zu Ende zu erzählen. »Nach ungefähr einem Jahr hat sich Susanna wieder bei uns gemeldet. Ich habe mit ihr am Telefon gesprochen, da ich gerade zu Besuch bei meinen Eltern war. Irgendetwas Ungewöhnliches war geschehen, das merkte ich an Susannas Stimme. Sie fragte mich, was ich davon hielte, wenn sie ein Studium der Kunstgeschichte beginnen würde. Wie ich bereits erwähnt habe, hatte sie sich wieder an der Schule angemeldet, um das Abitur zu machen, und danach wollte sie studieren. Ich war wie erlöst. Ich
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