Mephistos Erben: Kriminalroman (German Edition)
Mittagspause kurz mit Sören telefoniert und den Besuch auf dem Weihnachtsmarkt auf den Abend verschoben. Sie wollte gern die persönlichen Berichte von ehemaligen Sektenmitgliedern hören, mit denen die Veranstaltung nun weiterging. Zwischen den einzelnen Rednern gab es je eine kürzere Pause, nach eineinhalb Stunden noch einmal eine längere. Die harten Stühle beförderten Leas Entschluss, zur nächsten Veranstaltung unbedingt ein Sitzkissen mitzunehmen.
»Na, wie haben dir die Vorträge gefallen? Nicht schlecht, oder?«
Elisabeth bahnte sich ihren Weg in die Vorhalle, in der man den Geruch von Kaffee erahnen konnte.
»Ganz interessant, wirklich.« Lea bemühte sich, Elisabeth in dem allgemeinen Gedränge nicht zu verlieren. »Was Professor Wiegand vorgestellt hat, fand ich beeindruckend. Die Zielsicherheit, mit der die Sekten sich die passenden Leute aussuchen, ist doch unheimlich. Als hätten sie sich von Profilern des BKA beraten lassen, oder?«
Elisabeth hatte sich in der kürzesten Menschenschlange vor der Kaffeetheke angestellt und meinte:
»Ich glaube, das hat etwas ähnlich Instinkthaftes wie bei Raubtieren, die Beute suchen. Das funktioniert so gut, weil das Ziel so klar ist.«
»Irgendwie beängstigend, zumindest aus der Perspektive der Beute.«
Lea wich einem älteren Herrn mit Zopf im Nacken aus, der ihr unvermittelt seinen Ellenbogen in den Rücken gebohrt hatte. Elisabeth hatte inzwischen eine halbvolle Thermoskanne ergattert, nicht ganz ordnungsgemäß, wie Lea aus den Blicken der Umgebung deutete. Der Kaffee war schrecklich dünn, und Lea verzog den Mund.
»Wollen wir mal kurz an die frische Luft, hast du Lust?«, fragte sie Elisabeth.
»Gute Idee, dann laufen wir nicht Gefahr, aus Sauerstoffmangel wegzudämmern. Schnarchen kommt bei Vorträgen nicht so gut an.«
Lea lachte. »Wenn es nicht zu nass ist, gehen wir am besten ein kurzes Stück durch den Wald.« Als Elisabeth zustimmte, steuerte Lea den Ausgang an. Vor der Eingangstür hatten sich die Raucher zusammengefunden. Leas Mantel war inzwischen fast trocken, und der Nieselregen hatte in der Tat aufgehört. So liefen sie auf einem mit Schotter bedeckten Waldweg entlang. Durch den Regen roch der Wald intensiv nach vermoderndem Laub und Erde. Der Dunst über den Tälern lag wie ein Teppich über dem dunklen Grün, das durch die Lücken hervorschimmerte.
»Und, sag mal ehrlich, wie findest du die Vorträge?« Elisabeth fragte Lea nochmals, als sie so nebeneinanderher liefen. Diesmal ohne Zuhörer. Sie hatte feinfühlig, wie sie war, Leas nur verhaltene Zustimmung vorhin bemerkt.
»Schwer zu sagen, viel Bekanntes, nur wenig Neues. Ich weiß nicht recht. Dabei hat man ja immer die Hoffnung, etwas wirklich Wichtiges, Neues zu erfahren.«
»An was zum Beispiel denkst du?«
Lea grinste. »Am besten eine Zauberformel wie bei ›Bibi Blocksberg‹ – ›Hex, hex!‹« »Bibi Blocksberg« war eine Hörspielreihe für Kinder, die Leas Töchter jahrelang konsumiert hatten. Immer wenn es brenzlig wurde, kam das berühmte »Hex, hex«, ein Glöckchen erklang, und alle Probleme waren beseitigt.
»Ja, ja, ›Bibi Blocksberg‹ … Meine Nichte ist völlig versessen auf die CDs. Soweit ich weiß, fehlen ihr von den 125 Episoden maximal zwei.«
»Das sieht bei uns genauso aus.«
Der Wald wurde dichter und der Weg abschüssiger. Nach einigen schweigsamen Minuten kam Elisabeth wieder auf ihr magisches Thema zurück.
»Ich war als Sechsjährige einmal mit meiner Großmutter in der Oper ›Hänsel und Gretel‹, da traten nachts in diesem unheimlichen, finsteren Wald neben die verirrten Kinder zwei weiße Engel. Ich war danach völlig besessen von der Idee, ich müsse auch solche Schutzengel haben. Ich versuchte wochenlang, mich schlafend zu stellen, um sie nur ein einziges Mal zu entdecken. Ich hatte manchmal das Gefühl, ich könne den Luftzug spüren, den sie mit ihren großen, weißen Flügeln verursachten. Verrückt, oder?«
Elisabeth wich einer großen Pfütze aus, die an ihrem Rande so etwas wie eine kleine Eisschicht hatte, und Lea versuchte ebenfalls, auf die halbwegs trockenen Stellen des Waldwegs zu treten, der nun keinen Schotterbelag mehr hatte.
»Verrückt? Ich weiß nicht. Alle Menschen hätten gerne Schutzengel. Nur Kinder trauen sich noch, darüber zu sprechen. Und natürlich würde ich meinen Kindern gleich mehrere dieser himmlischen Bodyguards wünschen. Wie ist es denn ausgegangen mit deinen Engeln?«
Elisabeth zuckte
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