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Mephistos Erben: Kriminalroman (German Edition)

Mephistos Erben: Kriminalroman (German Edition)

Titel: Mephistos Erben: Kriminalroman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sophie Heeger
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über einzelne Bilder, Texte und den Aufbau der Ausstellung diskutiert.
    Nun war sie vor einer Stunde wieder in Frankfurt gelandet und mit der S-Bahn nach Hause nach Mainz gefahren. Am frühen Abend war jeder Platz wegen der unzähligen Berufspendler besetzt gewesen, und sie hatte die gesamte Fahrt dichtgedrängt zwischen fremden Menschen stehen müssen. Diese Nähe ertrug sie nicht mehr. Der enge und unausweichliche Kontakt, die verschiedenen menschlichen Gerüche, die unvermeidbaren Berührungen.
    Nachdem sie ihre Wohnungstür aufgeschlossen hatte, legte sie Mantel, Reisetasche und Schlüssel in der kleinen Diele ab. Der Anrufbeantworter zeigte keine Nachricht an. Sie versuchte, ihre Enttäuschung zu beschwichtigen, und ging in die Küche. Aus dem Regal nahm sie das Teesieb, grünen Tee und die Teekanne, schaltete den Wasserkocher ein und wartete auf das Siedegeräusch.
    Tee war etwas Wunderbares. Außerdem war sie wohl einer der wenigen Menschen, die aus einer 200 Jahre alten Teekanne tranken. Liebevoll fuhr sie mit den Fingern über die zarten blau-grünen Ornamente. Sie hatte diese wundervolle Arbeit vor zwei Jahren bei van Rossum, einem exklusiven Antiquitätengeschäft an der Herrengracht in Amsterdam, erstanden.
    Nachdem sie das leicht abgekühlte Wasser über das Sieb gegossen hatte, verbreitete sich das zart duftende Aroma des Formosa-Oolong-Tees. Sie entspannte sich und dachte: »Ich kann es schaffen, ich werde auf Marcion zugehen, und nach der Ausstellung in Köln besuche ich Gabriella.«
    Die Aussicht auf blühende Obs t bäume, wärmende Sonnenstrahlen und ein Wiedersehen mit der lebensfrohen Italienerin versetzte sie in ein Hochgefühl, das sie schon lange verloren geglaubt hatte.
    Im ersten Semester an der Universität von Bologna hatte sie Gabriella kennengelernt. Sie hatten zusammen verschiedene Seminare besucht und eine gemeinsame Projektarbeit im vierten Semester ausgearbeitet, eine kuns t historische Interpretation zu den beiden Engeln, die Raffael unter seiner »Sixtinischen Madonna« platziert hatte. Diese beiden gelangweilten kleinen Engel wirkten auf sie wie unerzogene Knaben; jedenfalls fehlte ihnen auffällig das Engelhafte. »Was meinst du«, hatte sie Gabriella gefragt, »die Engel sind von der ewigen Herrschaft gelangweilt, ihnen fehlt die Ehrfurcht, sie denken sich selbst etwas aus?«
    »Prima, bellissima, obwohl, ein bisschen blasphemisch.«
    Sie hatten unerwartet viel Spaß bei dieser Arbeit gehabt, insbesondere, als sie herausfanden, dass Raffael in seinen Bildern öfter geradezu ironische Momente aufwies. Gabriella hatte gelesen, dass die Madonna einer römischen Bäckertochter ähnelte, der damaligen Muse des Malers. Dass er die Geliebte und nicht seine Verlobte aus hochgestellten Kreisen in diesem Bild für Papst Julius II. als Modell gewählt hatte, interpretierten sie in ihrer Arbeit als Ausdruck der gigantischen Umwälzungen, die sich in Europa vollzogen. Der Buchdruck war erfunden, Amerika entdeckt. Martin Lu t her übersetzte zu dieser Zeit auf der War t burg die Bibel. Vielleicht hatten der Reformator und der Maler sich sogar auf Lu t hers Pilgerreise nach Rom getroffen, und sie hatten sich über das Wesen von Diesseits und Jenseits unterhalten?
    Es war eine schöne Zeit gewesen. Susanna hatte gemeinsam mit Gabriella über die Italiener, die Liebe und die Engel geforscht und war für kurze Zeit wieder in ihrer Welt zu Hause gewesen. Oft noch hatte sie sich später an die Zeit in Bologna und ihre Gespräche über Raffael und die Bäckertochter erinnert.
    Über ihren Erinnerungen war es spät geworden, der Tee war inzwischen kalt, es fröstelte sie in ihrem Sessel. Die Erinnerung an die Sonne Italiens machte den Winter dunkler und kühler. Sie stand auf und holte sich eine Strickjacke aus dem Kleiderschrank im Schlafzimmer.
    Währenddessen kam ihr ein Gedanke.
    Sie ging zu ihrem Schreibtisch und zog eine versteckte Schublade heraus, die alte Briefe en t hielt.
    Mit größtem Interesse hatte Lea den ersten Vortrag verfolgt. Die folgenden Reden waren teils interessant, teils aber auch ermüdend, mit unendlichem Datenmaterial, das vielfältig statistisch aufgearbeitet war. Die Kernaussage, dass stabile, selbstbewusste Menschen nicht zur Zielgruppe von Sekten gehörten, war nicht überraschend, und jeder der Anwesenden, der etwas Erfahrung mit problembehafteten Menschen hatte, nickte beipflichtend, als diese These zum wiederholten Mal vorgetragen wurde. Dennoch hatte sie in der

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