Mephistos Erben: Kriminalroman (German Edition)
kein wirklicher Brief, sondern eine Anklageschrift. Susanna konnte noch nach Jahrzehnten das Entsetzen spüren, das sie beim ersten Mal gepackt hatte.
»… und dann warf er mich auf den Boden und hielt mir den Mund zu. Ich habe mich gewehrt, und dabei ist das Armband mit den kleinen blauen Perlen zerrissen. Er hat gesagt, keiner würde mir glauben, dein sauberer Bruder. Er wird es abstreiten, dass er mich vergewaltigt hat, aber ich weiß, daß es wahr ist, und es wird gesühnt werden.
Wenn du weißt, was Freundschaft und Achtung bedeuten, musst du mir glauben.
E.«
Sie sah es vor sich, das Mädchen mit dem Brief der Freundin in der Hand. Wie es in das Zimmer des Bruders schlich und neben dem Bett die winzigen blaugrün schillernden Perlen fand.
Mit diesen Zeilen und den vermein t lichen Spuren der Tat war das Gift in ihr Leben getropft. In einer kleinen, blaugrünen Spur, die sich unmerklich verteilte und fortan in allem wirkte. Wann genau der Zeitpunkt gekommen war, an dem sie die Lüge erkannt hatte, war unerheblich gewesen. Nur, dass es zu spät gewesen war, das wusste sie.
Diesem schiefen, abschüssigen Weg war sie gefolgt in einem diffusen Gefühl, sie habe etwas wiedergutzumachen an dieser Person. Tief in ihrem Inneren war sie davon überzeugt, ihr etwas zu schulden. Sie hatte sich nicht vorstellen können, dass eine Person aus Bosheit eine solch unglaubliche Anschuldigung würde vorbringen können.
»Warum hätte sie sich das ausdenken sollen?«, hatte sie Alexander gefragt.
»Frag sie, frag doch sie«, hatte er entrüstet hervorgebracht, »die ist krank, deine Ellen, die ist doch nicht normal.«
Verzweifelt durch die Unglaublichkeit der Anschuldigung hatte er die Hände vor das Gesicht geschlagen und sich auf einen Stuhl gesetzt.
Sie hatte nicht lockergelassen. »Und was ist mit den Perlen, die ich in deinem Zimmer gefunden habe, auf dem Fußboden?«
»Ich weiß nicht, wie sie dort hingekommen sind, ich traue ihr alles zu, dieser Intrigantin.«
Sie hatte sich in eine Lüge verstricken lassen und die Wahrheit nicht erkannt. Was sie sich nicht vorstellen konnte, gab es nicht, was sie nicht verstehen konnte, konnte sie nicht sehen.
Hatte sie es wirklich nicht gesehen? Hatte sie ihn nicht gespürt, diesen Anflug von Zweifel an der unglaublichen Anschuldigung? Machte sich diejenige Person, die auf eine Täuschung hereinfiel, nicht auch schuldig?
»Warum glaubst du mir nicht?«, hatte Alexander sie gefragt, damals. »Ich bin dein Bruder, du kennst mich, du hast mir immer geglaubt, und ich habe dich noch nie angelogen. Warum glaubst du mir nicht mehr?«
»Ich kann nicht«, hatte sie wahrheitsgemäß erwidert. Sie konnte sich nicht entscheiden, welche Version der Geschichte wahr und welche falsch sein sollte. Warum sie es nicht konnte, blieb ihr verborgen, blieb im Dunkeln. Aus dieser zähen Dunkelheit flüsterte es immerzu ein Wort: Verrat.
Etwa ein Jahr später hatte sie die Wahrheit erfahren, fast beiläufig, so als habe es keine Bedeutung.
Ellen hatte sie mitgenommen zu einer Party. »Los, komm schon«, hatte sie auf sie eingeredet. »Da sind echt irre Typen, nicht so Langweiler. Ich will mal wieder Spaß haben.« Der abfällige Blick, den sie ihr zugeworfen hatte, duldete keinen Widerstand. Eigen t lich hatte Susanna keine Lust gehabt, sie war immerzu müde und sah aus wie ihr eigener Schatten. Schließlich hatte sie sich umgezogen, und zusammen waren sie zu der Party gefahren.
Die Wohnung war vollgestopft gewesen mit Leuten, die Aschenbecher quollen über, und in der Küche stapelten sich schmutziges Geschirr und Gläser. Sie hatte Ellen aus den Augen verloren und stand in der Küche herum.
Plötzlich hatte ein schmuddeliger Typ ihre Bluse hochgeschoben, seine Hände waren auf ihrer nackten Haut nach oben gewandert. Sie hatte die Spur seiner klebrig-feuchten Handflächen wie zähen Schleim auf ihrem Körper empfunden. Zu ihrer Bestürzung hatte er sich daraufhin über sie gebeugt und ihr seine Lippen auf den Hals gepresst.
»Bist du verrückt geworden?« Angewidert hatte sie seine Hände weggeschoben und war vor ihm zurückgewichen.
»Sie ist ein bisschen prüde, unsere Prinzessin …«
Die Umstehenden lachten.
»Da brauchst du schon ein Schwert und eine Krone, um sie zu beeindrucken.«
Die Frau mit dem Rotweinglas, die neben ihr gestanden hatte, brach nach ihrem eigenen Kommentar in angetrunkenes Gelächter aus. Sie kannte diese Person, eine Freundin von Ellen. Die dunkelblonden
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