Mephistos Erben: Kriminalroman (German Edition)
Bild aus der Rechtsmedizin vor sich, eine Leiche, die nach sechs Wochen im Wald gefunden worden war. »Tierfraß« hatte darunter gestanden.
Die Erinnerung daran mobilisierte ihre Kräfte, und sie machte einen neuen Anlauf aufzustehen. Jede Bewegung war qualvoll, selbst beim Atmen verspürte sie stechende Schmerzen seitlich am Brustkorb und am Rücken. Vielleicht auch noch eine Rippenfraktur, zu allem Überfluss. Sie drehte sich auf den Bauch und ging in den Vierfüßlerstand, eine Haltung, die man operierten Bandscheibenpatienten zeigte. Das müsste funktionieren. Beim Aufrichten schoss ein scharfer Schmerz durch ihren gesamten Rücken. Sie biss die Zähne zusammen und versuchte ein paar Schritte. Der Boden war rutschig, und das fahle Mondlicht schimmerte nur schwach durch die Baumkronen hindurch. Sie schaute sich um, versuchte sich zu orientieren.
Lea begann, den Abhang hinaufzuklettern. Doch immer wieder rutschte sie ein Stück zurück, und bei dem Versuch, mit den Händen Halt in dem lehmigen Untergrund zu finden, durchzuckten unerträgliche Schmerzen ihren Rücken. Unter der Beule an der Stirn pochte es wie wild.
Als sie die Anhöhe erreicht hatte, war sie völlig außer Atem und trotz der Kälte nassgeschwitzt. Was sie in dem Moment überfiel, war die Feststellung, dass sie überhaupt keine Idee hatte, wie sie an diesen Ort gekommen war. Der Gedanke war mindestens so erschreckend wie der, mutterseelenallein im nächtlichen Wald zu stehen. Das Letzte, woran sie sich erinnerte, war ein Schulungsgebäude, in dem sie mit Elisabeth zusammen gesessen hatte. Vorträge … Kaffee … Spaziergang. Zumindest so weit kehrte die Erinnerung zögerlich zurück. Aber dann gab es nichts mehr, ein Filmriss, ein gähnendes Erinnerungsloch. Vielleicht war sie gestürzt, und Elisabeth wollte Hilfe holen? Möglicherweise hatte sie sich von der Unfallstelle wegbewegt und konnte sich wegen der Kopfverletzung nicht mehr erinnern? Postcommotionale Amnesie. Das gab es, dass man sich nach einer Kopfverletzung nicht mehr an den Unfallhergang erinnern konnte. Eine halbwegs einleuchtende Erklärung, die Lea etwas beruhigte. Sie ging langsam in eine Richtung, die weniger von Bäumen bewachsen zu sein schien. Vielleicht war dort ein Waldweg oder besser noch ein Parkplatz mit Beschilderung.
Es war in der Tat eine Waldlichtung, denn sie konnte über sich ein größeres Stück des nächtlichen Himmels sehen. Vereinzelt erkannte sie hinter einer Wolkenschicht kleine Lichtpunkte. Außerdem einen aus Holz grob zusammengezimmerten Unterstand für Waldarbeiter und Wanderer.
Und jetzt? Lea blickte sich ratlos um. Wo war überhaupt ihre Handtasche oder das Handy? Sie hatte die Stelle, an der sie zu sich gekommen war, verlassen, ohne danach zu suchen. Aber sie wollte auf gar keinen Fall zurück. Das Handy … Vielleicht hatte sie es in die Manteltasche gesteckt? Mit steifgefrorenen Fingern durchsuchte Lea ihre Manteltaschen. Sie fand jedoch nur eine durchweichte Broschüre, die sich aber im spärlichen Licht nicht entziffern ließ. Wie kam die überhaupt dorthin? Vermutlich das Tagungsprogramm. Ihr Kopf schmerzte nicht nur bei Erschütterungen, sondern auch beim Versuch, konzentriert nachzudenken.
Lea ging auf dem kaum sichtbaren Weg ein Stück entlang, in der Hoffnung, etwas zu entdecken, das ihr eine Richtung aus dem Wald heraus weisen würde. Und tatsächlich, in größerer Entfernung sah sie undeutlich durch die Bäume mehrere Lichter. Vielleicht das Fortbildungszentrum oder Wohnhäuser. Dem Gleichmaß ihrer Anordnung und Lichtstärke nach urteilte Lea, dass es sich um Straßenlaternen handelte.
Es war mitten in der Nacht! Lea fiel nun erst auf, dass sich ihre Armbanduhr nicht am Handgelenk befand. Sie vermutete, dass es noch nicht gegen Morgen sein konnte, die Schwärze der Nacht hatte noch nichts von ihrer Dunkelheit eingebüßt. Wahrscheinlich suchten auch schon alle möglichen Leute nach ihr. Sören würde sich die größten Sorgen machen.
Der Weg, auf dem sich Lea befand, führte nun aufwärts und wechselte seine Richtung. Sie entfernte sich von den Laternen. Sie blieb stehen. Wahrscheinlich hatte Elisabeth bei Sören angerufen und ihm gesagt, dass sie sich verletzt hatte. Aber warum hatte Elisabeth nicht ihr Mobiltelefon benutzt, um Hilfe zu holen?
Plötzlich hörte Lea in einiger Entfernung Hundegebell. Dort musste es auch Häuser und Menschen geben, überlegte sie. Aber das Hundegebell kam von weiter oben, aus entgegengesetzter
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