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Mercy, Band 4: Befreit

Mercy, Band 4: Befreit

Titel: Mercy, Band 4: Befreit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ilse Rothfuss
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ist noch nass vom Duschen. Es ist länger geworden und fällt ihm in die ungewöhnlich hellen eisblauen Augen. Als er mich sieht, erstarrt er mitten in der Bewegung. Alles Blut weicht aus seinem Gesicht. Im ersten Moment nimmt er gar nicht wahr, wer sonst noch im Zimmer ist, weil er nur Augen für mich hat. Er erkennt mich, das ist offenkundig, obwohl er mich noch nie so gesehen hat: ein Wesen, das aus Titan zu bestehen scheint und in Licht und Schmerz gehüllt ist. Unsere Seelen haben sich einmal berührt, als ich Carmen war und sein Gedächtnis nach Spuren von Lauren durchsuchte.
    „Hey, Rich!“, sagt Ryan knapp.
    Er mustert missbilligend Richards Aufzug, dann schaut er zu seiner Schwester. Ihr langes aschblondes Haar hängt offen herunter, sie trägt einen schlabbrigen blauen Jogginganzug, der ihren ausgemergelten Körper und ihre staksigen Beine verhüllt. Sie sieht viel jünger aus, als sie ist.
    „Ry“, wispert Richard, ohne den Blick von mir abzuwenden. „Seit wann bist du wieder hier?“
    „Seit eben“, sagt Ryan. „Das ist Mercy.“
    „Ja, ich hab’s mir schon gedacht“, erwidert Richard.
    Endlich reißt er sich von meinem Anblick los und setzt sich neben Lauren aufs Bett.
    „Was machst du hier?“, knurrt Ryan.
    Richard und Lauren wechseln einen Blick miteinander, dann schaut sie auf ihre neue, leuchtend rote Tagesdecke hinunter. Das dünne Haar fällt ihr über eine Schulter, verbirgt ihr gequältes Gesicht und die gehetzten Augen.
    „Hier herrscht Tsunami-Warnung“, erklärt Richard, als Lauren nicht antwortet. „Das Epizentrum ist zwar weit weg, aber trotzdem wurden alle nach Little Falls Junction evakuiert. Lauren wollte unbedingt nach Hause zurück, nachdem nichts passiert ist. Sie kann die Menschenmassen nicht ertragen. Die Leute haben sie angestarrt und über sie geredet, sagt sie. Und das stimmt auch – war ein Riesenwirbel, als sich rumgesprochen hat, dass sie da ist. Ich kann sie doch nicht allein hier lassen.“
    „Wo sind Mom und Dad?“, faucht Ryan und Lauren zuckt zusammen.
    „Ich hab gemacht, was du wolltest!“, schreit sie plötzlich wütend. „Ich hab zwei Tickets für eine Vorstellung in Portland gekauft, die Mom vielleicht gern sehen würde – mit Abendessen, Hotel und allem Drum und Dran – und dann hab ich sie bequatscht, dass sie endlich mal wieder unter Leute kommen müssen, dass sie lange genug zu Hause rumgesessen haben und dass ich dringend meinen Freiraum brauche. Und es hat geklappt. Ich hab sie hier weggelockt und jetzt stecken sie auf der anderen Seite vom Highway fest. Niemand kommt da rein oder raus, jedenfalls nicht heute Nacht.“
    „Warum bist du denn nicht mitgefahren?“, murmelt Ryan und seine Gesichtszüge werden weicher.
    „Weil ich es noch nicht packe, ins Theater oder ins Restaurant zu gehen oder was weiß ich. Schau mich doch mal an, Ryan! Der Tag heute war der beste Beweis dafür. Ich dachte, ich sterbe, so wie die mich angegafft haben. Und hast du mal aus dem Fenster geschaut? Es ist sowieso egal, wo ich bin.“
    Ryan geht zum Fenster und zieht einen der bunt gemusterten Vorhänge zur Seite. „Da ist nichts“, sagt er stirnrunzelnd.
    Lauren wirft mir einen verwirrten Blick zu. Ich gehe zu Ryan und schaue nach draußen. Und tatsächlich: Da ist er. Hinter dem Zaun zum Nachbarhaus. Er steht auf dem Fußweg und verströmt ein fahles Licht in der Dunkelheit. Plötzlich hebt er den Kopf, als könnte er mich spüren.
    Ich nicke Ryan zu und seine Schultern sacken herunter.
    „Semjasa hat Barachiel und Jeremiel vermutlich auf eine falsche Spur gelockt“, sage ich dumpf. „Luc ist nicht in Panama und Raphael auch nicht. Sie sind hier, ganz bestimmt. Sie wollten immer nur mich, nicht Michael. Ich glaube, es war schon immer sein Plan, uns hierherzulocken – von Europa über Asien nach Amerika. Nuriel, Selaphiel und Gabriel waren nur Köder. Eine typische Luc-Aktion. Er will uns zermürben. Uns die Illusion lassen, dass wir alles im Griff haben. Und genau hier, an diesem Ort, sollten wir landen. Ohne Freunde und Verbündete. Vollkommen isoliert und allein. Er wird nie von mir ablassen. Nie.“
    „Kann mich mal jemand aufklären?“, unterbricht Richard uns, weil er natürlich kein Wort versteht.
    Ryan erzählt den beiden, was seit meinem Auftritt als Carmen passiert ist: von Lela und Irina und dem ganzen Rest. „Wir sind seit einer Ewigkeit auf der Flucht“, sagt er müde. „Oder jedenfalls kommt es mir so vor. Und jetzt soll ich

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