Mercy, Band 4: Befreit
„Das löst doch die Endzeit aus, die ihr alle so fürchtet! Warum tut ihr nichts dagegen?“ Anklagend blickt er die Erzengel an, die um uns versammelt sind. „Warum lasst ihr das geschehen?“
„Hör sie an!“, befiehlt Uriel, der mir so ähnlich ist und dem die entscheidende Rolle in unserem Plan zufallen wird.
Ich nehme Ryans Gesicht in meine Hände und zwinge ihn, mir in die Augen zu sehen. „Was Luc bekommt, ist eine Illusion. Wenn wir zum Coronado Beach kommen, wird ‚Mercy‘ sich ihm ausliefern.“
Ryan schüttelt unwillig den Kopf, und ich wende meinen Blick von ihm ab und sehe Michael an. „Aber sobald Raphael bei uns in Sicherheit ist und Luc die Hand nach Mercy ausstreckt, findet eine Verwandlung statt“, sage ich leise und nachdrücklich, „eine Massenverwandlung, sodass Lucs Mächte mein Gesicht in allen Richtungen gespiegelt sehen. In dieser Tarnung werden die Unseren sich verteilen. Und in dem Chaos werde ich fliehen.“
„Mercy …“, stößt Ryan mit leiser, angstvoller Stimme hervor.
„Jagt Luc in sein Loch zurück, Michael“, sage ich müde. „Macht den Schaden wieder gut, den er angerichtet hat, oder zumindest einen Teil davon. Wir können nicht länger zuschauen.“
Michael nickt grimmig.
Ryan lässt mich angewidert los. „Ich muss unter die Dusche“, murmelt er. „Ich fühl mich schmutzig.“ Dann geht er aus dem Zimmer.
„Ich hol die Motorräder“, sagt Richard und angelt einen Pulli und einen Schlüsselbund aus seiner Tasche, die in der Ecke liegt. Eine Sekunde später höre ich ihn die Treppe hinunterrennen und die Haustür hinter sich zuschlagen.
Ich gehe zu Uriel. „Du musst es sein“, sage ich und er lächelt und nickt.
„Wer sonst?“
Einen Augenblick schaut er auf mich herunter, betrachtet mich, als wäre ich ein Gemälde oder ein Gedicht, das er sich in allen Einzelheiten einprägen müsste. Dann leuchten seine Umrisse noch strahlender auf als zuvor und er verschwindet.
Die anderen verabschieden sich auf dieselbe Weise, einer nach dem anderen: Jehudiel, Barachiel, Gabriel, Jeremiel.
Nur Michael ist noch übrig, und bevor auch er verschwindet, stellt Lauren sich ihm in den Weg.
Bebend vor Wut schreit sie: „Warum habt ihr mir nicht geholfen? Wenn ihr das hier könnt“, und sie bohrt ihren Finger in die Luft, wo gerade noch die anderen gestanden haben. „Warum ist dann keiner von euch gekommen und hat mich gerettet?“ Tränen laufen ihr übers Gesicht. „Ihr hättet mich retten können – oder aus meinem Elend erlösen“, schluchzt sie verzweifelt.
Michael beugt sich herunter, nimmt ihre Fäuste in seine großen Hände und blickt ihr in die verweinten Augen.
„Was dir angetan wurde, wird eines Tages wiedergutgemacht werden. Es gibt eine Gerechtigkeit. Bis dahin, Lauren Daley, nehme ich deinen Schmerz, dein Leid auf mich. Ich trage deine Bürde. Und es schmerzt mich mehr, als du je erfahren wirst, dass wir nicht da waren, als du uns brauchtest. Dass dir Böses angetan wurde.“
Dann löst auch er sich auf und Lauren geht wie eine Schlafwandlerin in ihr Bett, zieht sich die Decke über den Kopf und ist sofort eingeschlafen.
Ich gehe zu Ryans Zimmer. Vorsichtig öffne ich die Tür und sehe, dass er auch schläft. Seine dunklen Haarstoppeln stehen ihm in alle Richtungen vom Kopf ab, bilden einen scharfen Kontrast zu dem blendend weißen Kopfkissen. Er liegt mit nacktem Oberkörper da und ich atme seinen vertrauten, mit Seifenduft vermischten Geruch ein. Ich schlüpfe zu ihm unter die Decke und schmiege mich an ihn.
Er ist so müde, dass er sich nicht rührt, geschweige denn aufwacht. Ich kann ihn nur halten, seine Energie, seine Lebenskraft ein letztes Mal in mich hineinströmen lassen, wie die Klänge eines alten Liebeslieds.
Das , denke ich, werde ich am meisten vermissen, wenn ich fort bin. Die Nähe zu ihm, seinen Herzschlag an meinem Ohr.
Es ist noch dunkel, als ich mit Ryan und Lauren das Haus verlasse. Wir berühren uns nicht, halten Abstand. Lauren trägt einen unförmigen dunkelblauen Parka über einem pinkfarbenen Sweatshirt und schlabbrigen Jeans. Ihr Haar ist zurückgekämmt und zu einem straffen Zopf geflochten, sodass ihr ausgemergeltes Gesicht wie ein Totenschädel aussieht. Aber heute ist sie nicht so reizbar und empfindlich. Ich sehe es an ihrer Körperhaltung.
Ich selbst habe mein menschliches Reisegesicht aufgesetzt und trage das schlichte Outfit, in dem ich die halbe Welt durchquert habe. Ryan hat immer noch seine
Weitere Kostenlose Bücher