Mercy, Band 4: Befreit
selbst davon überzeugen. „Ist doch nur Chemie, biologisch. Du wirst drüber wegkommen. Bald erscheint es dir wie ein ferner Traum. Und mir auch.“
Ich lasse Ryan keine Zeit, zu protestieren, sondern drücke ihn fest an mich und schieße mit ihm zum Ozean hinunter. Für Sekunden kehrt er zurück, dieser schreckliche Schwindel, das Gefühl, endlos zu fallen, ohne jemals wieder festen Boden unter den Füßen zu bekommen.
Wir zischen über der aufgewühlten, wogenden See dahin. Ich halte Ryan warm, präge mir jede Linie seines Körpers, jede Eigenheit, jeden einzelnen Zug ein, um später davon zehren zu können.
Als wir den Golf von Kalifornien hinter uns lassen, um landeinwärts zu fliegen, tauchen allmählich Lichter in der Dunkelheit auf.
Ryan sagt plötzlich: „Was ist das denn da unten? Siehst du das?“
Aus der Luft sieht es wie ein riesiger Schutthaufen aus Holzstecken und Steinbrocken aus. Aber als ich die Flugbahn ändere und tiefer gehe, kann ich Umrisse in der Dunkelheit ausmachen: geflieste Wände, Fensterrahmen, kaputte Dächer. Und das alles treibt einfach aufs Meer hinaus.
„Mein Gott“, murmelt Ryan entsetzt, als wir dicht über einer wogenden Suppe aus gekenterten Booten, zerbrochenen Masten, Ölfässern, Wellblechplatten, Straßentrümmern und Bootsstegen hinwegfliegen. „Was zum Teufel ist denn hier passiert?“
Dann nehmen wir den Brandgeruch wahr und den Feuerschein, der die Stadt an der Küste erhellt. Mir stockt der Atem, denn ich sehe, was alles im Wasser treibt: Autos hüpfen auf den Wellen wie Schwimmtiere, das Heck eines kleinen Flugzeugs ragt aus dem Wasser, ich sehe zerschmetterte Rümpfe von Luxus-Jachten, gekenterte Frachter und Schiffscontainer. Und dann sehe ich die Leichen im Wasser. Unzählige Leichen.
Ryan und ich schauen uns entsetzt an. „Lauren“, sagen wir beide wie aus einem Mund. Ich fliege weiter, so schnell ich kann, bis die Ausläufer des wilden Kalifornischen Küstengebirges vor uns auftauchen.
Es ist fast dunkel, als wir über Port Marie hinweggleiten. Von der Küstenstraße aus wirkt Paradise genauso trostlos, verlassen und heruntergekommen wie alles, was wir vorher gesehen haben. Nur die Straßenlaternen leuchten noch.
Wir gehen tiefer hinunter. Die Hauptstraße des staubigen kleinen Orts, der aussieht, als wäre er auf dem Reißbrett angelegt worden, ist leer und nur hier und da brennt Licht in den Häusern. Auf den Dächern sind schrille Weihnachtsdekorationen angebracht, die aber ausgeschaltet sind.
Ryan schaut mich fragend an, denn ich biege nach Süden ab, um sein Haus aus der anderen Richtung anzufliegen.
„Das Haus wird beobachtet“, erinnere ich ihn leise.
Ich komme über den Zaun auf der Rückseite herein, lande leichtfüßig neben der Treppe zur Hintertür. In der Küche brennt Licht, und auch irgendwo im oberen Stock, aber sonst liegt das Haus völlig im Dunkeln.
Ryan öffnet die Fliegengittertür und will anklopfen, da stürmt etwas aus der Dunkelheit auf uns zu. Die drei Wachhunde der Daleys – scharfe, muskulöse Dobermänner – heulen und toben wie finstere Dämonen.
„Platz!“, brüllt Ryan, aber ich gehe die Treppe hinunter zurück in den Garten und sage grimmig: „Lass sie nur kommen. Die werden sich wundern.“
Ich bin gewappnet und werde ihren Angriff abschmettern, denn wenn sie sich auf mich stürzen – und sie lechzen geradezu danach –, wird das ihr Tod sein.
Doch als sie mich sehen, das Licht, das meine Haut einhüllt, fangen sie an zu winseln und umkreisen mich in gebührendem Abstand. Dann legen sich alle drei zu meinen Füßen ins Gras, als wären sie müde.
Ein schwacher Schimmer huscht über ihr schwarz-braunes Fell, sammelt und verdichtet sich und nimmt schließlich die Umrisse eines jungen Mädchens an. Ich kenne diese Kreatur, obwohl ich ihren Namen nie erfahren habe. Hinter mir zieht Ryan die Luft ein.
„Malakh“, sage ich, „du bist mir viele Leben lang gefolgt. Was willst du mir mitteilen?“
Die Erscheinung sieht mich an, und ich ahne, dass sie früher einmal sehr schön gewesen sein muss, niedlich wie eine Puppe. „Komm näher“, wispert sie mit letzter Kraft. „Und hör gut zu, denn ich sterbe.“
Die Hunde winseln immer noch. Ich höre, wie die Hintertür aufgeht, aber ich drehe mich nicht um, weil ich mich auf die Botschaft des Malakhs konzentriere. „Sprich“, dränge ich ihn, „denn ich höre zu.“
„Lord Luzifer will verhandeln“, murmelt der Malakh. „Er will Raphael gegen
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