Mercy, Band 4: Befreit
dich austauschen. Bei Sonnenaufgang an dem Strand, der nach dem Riff benannt ist, das wie eine Teufelskrone aussieht. Wenn du freiwillig kommst, wird er gnädig sein. Aber wenn nicht …“
Einen Augenblick verschwimmen die Umrisse und die Hunde heben die Köpfe und heulen in panischer Angst, als spräche der Malakh durch sie.
„Wenn du bewaffnet kommst“, keucht der Malakh schließlich, „oder in betrügerischer Absicht, wird er das ganze Universum nach seinen Vorstellungen umgestalten.“
Das Mädchen hatte einst lange hellblonde Locken und große blaue Augen.
„Wie kann man nur so leichtgläubig sein“, sage ich mitleidig. „Bei Sonnenaufgang wird er uns alle zerstören, egal was ich tue. Es hat bereits begonnen.“
Der Malakh schüttelt abwehrend den Kopf.
In mir steigt ein unbändiger Zorn auf, weil mir diese unglückselige Kreatur meine letzten Stunden mit Ryan verdirbt. Ich dachte, ich hätte die Monster hinter mir gelassen.
„Verräterin“, zische ich. „ Du hast Luc gesteckt, dass ich mich in Mailand aufhalte, stimmt’s? Du hast die Laufbotin für Michael und K’el gespielt, für alle, die von den Acht geblieben sind, und dann hast du uns verraten. Warum? Was hat er dir versprochen?“
Mit flammenden Augen blickt der Malakh zu mir auf. „ Du wagst mich zu fragen, warum?“ Seine Stimme ist wie ein Todesröcheln. „Ich schulde dir keine Loyalität. Ich habe dich angefleht und du hast mir nicht geholfen. Er gibt mir, was die hohen Elohim mir verweigern – einen lebendigen Körper, in dem ich meine Tage beenden kann. Ich habe genug gelitten.“
„Sonnenaufgang!“, kreischt das Geistermädchen plötzlich mit erhobenem Finger. „Oder er stirbt, sie stirbt. Alles, was du je in dieser Welt berührt oder geliebt hast, wird niedergemetzelt, zerstört, geschändet.“
Ich folge dem Blick des Malakh, will wissen, was er mit seinen leeren Augen anstarrt. Und da sehe ich Lauren und Ryan im Türrahmen stehen – er groß und dunkel, sie schmal und blass. Sie wagen es kaum, sich zu rühren oder zu atmen.
Als ich mich wieder zu dem Malakh umdrehe, ist er fort und die Hunde sind tot.
Es erscheint mir wie ein Albtraum, als Ryan und ich die drei Hunde unter einem mondlosen Himmel in dieser geisterhaft stillen Straße begraben. Und das Absurdeste ist, dass ich um die Kreaturen trauere, die mich so gehasst und gefürchtet haben.
Endlich gehen wir ins Haus und warten benommen, bis Lauren die Hintertür abgeschlossen und die Kette vorgelegt hat. Es ist ein komisches Gefühl, wieder im Haus der Daleys zu sein, in all diesem eintönigen Weiß. Die Decke erscheint mir zu niedrig, alles kommt mir irgendwie zu klein vor. Als wäre das Haus für Kinder gebaut. Aber es muss eine Illusion meines zerstörten Geistes sein, denn alles ist genau wie beim ersten Mal. Aber das Gefühl, dass ich mich jeden Moment auflösen, in Stücke bersten könnte, kehrt wieder. Es ist, als ob die Welt unter mir wegkippte. Ich habe Angst, dass ich herunterfalle und nie mehr zurückfinde.
Wir gehen durch die Küche, den Hausflur und dann die Treppe hinauf, und alles ist wie damals, nur Laurens Zimmer erkenne ich kaum wieder. Überall Farbe, Lichter, Weichheit und Wärme, wie ein kuscheliger bunter Kokon, aus dem Lauren eines Tages wieder auftauchen wird, heil und unversehrt.
Jetzt setzt sie sich auf den Bettrand und winkt mich zu sich. Ihre blauen Augen sind geweitet vor Staunen. Aber ich bin zu nervös, um still zu sitzen. Ich gehe im Zimmer herum und spüre, wie sie mir mit den Augen folgt.
Ryan lehnt an der Kommode und schläft fast im Stehen ein. Er sieht müde, zerknittert und sexy aus, und er wird mir nie gehören, nie. Eine Welle von Kummer überrollt mich, so heftig, dass ich ins Stolpern gerate und beinahe auf den Boden stürze.
„Was soll ich nur tun?“, jammere ich.
Ryan streckt die Hand aus, fängt mich auf und zieht mich an sich. Und eine Zeit lang blende ich alles aus, lausche nur seinem Herzschlag, dem Rauschen des Blutes unter seiner Haut. Das, was ich nachts vor dem Einschlafen als Letztes hören will und morgens als Erstes beim Aufwachen. Aber so wird es nie sein.
Ein Klopfen an der halb geöffneten Tür lässt uns hochschrecken und dann ruft eine Männerstimme kampflustig: „Lauren? Wer ist da? Alles in Ordnung bei dir?“
Die Tür wird aufgestoßen und Richard Coates, Laurens Freund, steht vor uns. Er trägt Bluejeans, sein Oberkörper ist nackt und von Tattoos übersät. Sein dunkelblondes Haar
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