Mercy - Die Stunde Der Rache Ist Nah
sich von ihr zu entfremden.
Das spürte Olivia.
Es machte sie stinkwütend. Und es macht mich
traurig, dachte sie, während sie mit ihrem alten Ford Ranger - ein Erbstück mit
beinahe zweihunderttausend Meilen auf dem Buckel, das sie bald in Zahlung würde
geben müssen - nach Hause raste.
Sie liebte ihren Mann, und als sie geschworen
hatte, ihm in guten wie in schlechten Zeiten zur Seite zu stehen, hatte sie das
aufrichtig gemeint. Er auch, davon war sie stets ausgegangen, aber seit dem
Unfall ...
Sie stieg auf die Bremse, als die lange Landstraße,
die sich durch diesen Teil des Sumpflands wand, eine Kurve machte. Einst hatte
sie das kleine, abgelegene Cottage mit Großmutter Gin geteilt und nach dem Tod
der alten Dame ein paar Jahre allein darin gewohnt. Als sie und Bentz geheiratet
hatten, war er aus seinem Apartment in New Orleans zu ihr in die waldige
Sumpfgegend des Mississippi-Deltas gezogen.
Eine Weile lang hatte seine Tochter bei ihnen
gelebt, doch das war nicht sonderlich gut gelaufen. Kristi war eine erwachsene
Frau und hatte ihren Freiraum gebraucht. Trotzdem waren sie in den vergangenen
Jahren glücklich gewesen.
Bis zu dem verfluchten Unfall. Ein merkwürdiges
Ereignis.
Ein Blitz hatte eine Eiche gespalten, und Rick
war von einem dicken Ast getroffen worden, der ihn zu Boden warf und beinahe
sein Rückgrat verletzte. Sogar jetzt überkam sie noch ein Schauder, wenn sie an
jene düsteren Tage zurückdachte, in denen sein Überleben am seidenen Faden
gehangen hatte.
Er hatte überlebt. Gerade noch. Damals hatten
sie und ihre Stieftochter eine gewisse Verbundenheit verspürt, hatten einander
im Krankenhaus an den Händen gehalten, als die Ärzte Bentz eine katastrophale
Diagnose stellten. Sie hatte gedacht, sie würde ihn verlieren, hatte damit gerechnet,
dass er sterben würde. In jenen herzzerreißenden Tagen bedauerte sie, dass sie
kein Kind hatte, einen Teil von ihm, der ihr bleiben würde. Vielleicht war das
selbstsüchtig, aber das war ihr egal.
Im Rückspiegel tauchte ihr Spiegelbild auf.
Besorgte Augen in der Farbe von Bernstein blickten ihr entgegen. Es behagte ihr
gar nicht, was da passierte.
»Dann tu was dagegen«, sagte sie. Sie war nie
ein zurückhaltender Mensch gewesen, und bei mehr als einer Gelegenheit hatte
man sie »äußerst temperamentvoll« genannt. Hatte Bentz sie »äußerst temperamentvoll«
genannt. Bei ihrer ersten Begegnung hatte sie ihm ohne Umschweife ihre Vision
von einem Mord geschildert, der sich kurz darauf tatsächlich ereignete. Das
hatte ihn ein wenig aus dem Konzept gebracht, und er glaubte ihr zunächst
nicht. Aber sie hatte ihn überzeugt.
Und irgendwie musste sie ihn jetzt wieder
überzeugen. Sie schaltete und versuchte, sich nicht mit der Tatsache zu
befassen, dass sich ihre Beziehung abgekühlt hatte, seitdem Rick aus dem Koma
erwacht war. Er war ein anderer Mann geworden. Nicht ganz und gar, natürlich
nicht, aber irgendwie hatte er sich verändert. Zunächst hatte sie sein
mangelndes Interesse an ihr damit abgetan, dass er sich Sorgen machte. Er
musste sich auf seine Genesung konzentrieren. Doch die Dinge waren nicht so
gelaufen wie erwartet. Als er nach Wochen wieder zu Kräften gekommen war,
hatte sie eine gewisse Desillusioniertheit an ihm festgestellt. Sie hatte sich
eingeredet, seine Laune würde in der Minute umschlagen, in der er seinen Job
wieder aufnehmen und das tun könnte, was er so liebte: Mordfälle aufklären.
Doch mit den Wochen wurde sie unruhig. Obwohl
sie darüber gesprochen hatten, ein Kind miteinander zu bekommen, konnte davon
keine Rede mehr sein. Bentz war immer ein leidenschaftlicher Mann gewesen,
nicht so heißblütig wie sein Partner Montoya, aber ausdauernd, zielstrebig und
couragiert.
Im Bett war er ein aufmerksamer Liebhaber
gewesen, der seine Lust nicht zuletzt aus ihrem Genuss gezogen hatte. Doch das
alles hatte sich geändert.
Sie zweifelte nicht daran, dass er sie liebte,
nicht eine Sekunde. Doch anstatt im Alter reifer zu werden, war ihre Beziehung
... schal geworden, ein besseres Wort fiel ihr dafür nicht ein. Und genau das
passte ihr nicht. Sie klappte die Sichtblende herunter. Das Sonnenlicht tüpfelte
das warme Asphaltband, das sich durch die Niederung schlängelte. Ein Hase
hoppelte am Straßenrand ins Gebüsch.
Olivia bemerkte es kaum.
Irgendwie musste sie ihre Beziehung mit Rick neu
ankurbeln. Vielleicht musste sie ihrem Ehemann auch einfach einen
wohlplazierten Tritt in seinen süßen Allerwertesten
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