Mercy - Die Stunde Der Rache Ist Nah
Schutzfolie
abzureißen und das Pflaster um ihren Zeigefinger zu wickeln. Das Blut hörte
nicht auf zu fließen. »Verdammt«, murmelte sie und erblickte flüchtig ihr Gesicht
in den Überresten des Spiegels.
»Sieben Jahre Pech«, flüsterte sie, genau wie
damals Groß mutter Nichols, als Jennifer im Alter von drei
Jahren deren Lieblingsspiegel zerbrochen hatte. »Auf dir lastet ein Fluch, bis
du zehn bist, Jenny, und wer weiß, wie lange er noch anhält!« Oma, die
eigentlich sehr lieb war, hatte ausgesehen wie ein Monster mit ihren gelben Zähnen
und den blutleeren Lippen, die sich voller Entrüstung kräuselten.
Wie recht die alte Frau doch hatte! Das Pech
schien sie tatsächlich zu verfolgen, bis heute.
Jennifer betrachtete sich in den verbliebenen
Spiegelscherben und stellte sich vor, wie sie als alte Frau sein mochte - als
einsame alte Frau.
Was für ein Tag, dachte sie benommen und wandte
sich zur Treppe, um Besen und Kehrblech zu holen. Das Valium zeigte seine
Wirkung, auf dem Treppenabsatz wäre sie beinahe gestolpert. Sie fing sich und
ging die Stufen hinunter in Richtung Hauswirtschaftsraum. Die Außentür stand
offen. Wie war das möglich?
Sie hatte sie nicht offen gelassen, da war sie
sich sicher. Und als ihr Liebhaber gegangen war, hatte er den Weg durch die
Garage genommen. Also ...? Hatte Kristi die Tür auf dem Weg zur Schule nicht
richtig zugezogen? Das verdammte Ding ließ sich nur schwer schließen, aber ...
Jennifer spürte, wie ihr die Angst das Rückgrat hinunterkroch. Hatte sie nicht
vorhin hier unten jemanden gehört? Oder war das nur die Wirkung des Gins? Sie
fühlte sich leicht benebelt, ihr Kopf war schwer ... Sie lehnte sich gegen die
Arbeitsplatte und lauschte angestrengt, versuchte, sich zu erinnern. Gütiger
Gott, sie war ganz schön daneben. Wieder in der Küche, schenkte sie sich ein
Glas Wasser ein und nahm einen Hauch von Zigarettenrauch in der Luft wahr.
Ohne Zweifel von ihrem Ex-Mann. Wie oft hatte sie ihn schon gebeten, diese
schlechte Angewohnheit abzulegen und draußen zu rauchen? Weit weg vom Haus,
nicht auf der Veranda, wo der verdammte Tabakgeruch durch die Fliegengittertür
waberte. Doch Rick war seit zwei Tagen
nicht mehr hier gewesen ... Sie erstarrte, ihr Blick
wanderte hinauf zur Decke. Nichts ... und dann ... Oben knarrte eine Diele.
Glas knirschte. O Gott, nein.
Diesmal gab es keinen Zweifel. Diesmal war sie
sich sicher. Jemand war im Haus.
Jemand, der nicht wollte, dass sie seine
Anwesenheit bemerkte. Jemand, der ihr etwas antun wollte. Wieder stieg ihr
Zigarettenrauch in die Nase. Mein Gott, das war nicht Rick.
Auf leisen Sohlen schlich sie zum Küchentresen,
auf dem der Messerblock stand, und zog vorsichtig ein Messer mit einer langen
Klinge heraus. Sie musste an all die Fälle denken, die ihr Mann gelöst hatte,
an all die Kriminellen, die Rick und seine Familie bei ihrer Festnahme oder
Verurteilung mit Hass überschüttet hatten. Viele von ihnen hatten geschworen,
es Detective Bentz auf so schmerzhafte Weise heimzuzahlen wie nur möglich.
Er hatte ihr nie davon erzählt, doch sie hatte
es von seinen Kollegen erfahren, die bereitwillig die vielfältigen Racheschwüre
der Verbrecher wiederholt hatten. Und jetzt war jemand im Haus. Ihre Kehle
wurde staubtrocken.
Mit angehaltenem Atem schlich sie in die Garage
und wäre beinahe über die einzelne Stufe gestolpert, als sie feststellte, dass
das Garagentor sperrangelweit offen stand: eine unmissverständliche Einladung,
die der Eindringling offenbar angenommen hatte. Ohne weiter zu überlegen, glitt
sie hinters Steuer. Die Schlüssel steckten.
Sie ließ den Motor an, legte den Rückwärtsgang
ein und trat aufs Gas. Der Van schoss auf die Auffahrt, wobei er um ein Haar
das elende Katzenvieh der Nachbarn überrollt hätte und nur knapp den
Briefkasten verfehlte. Jennifer stellte die Automatik auf D und blickte zum
Schlafzimmerfenster hinauf. Ihr blieb das Herz stehen.
Eine dunkle Gestalt stand hinter der
Fensterscheibe, ein Schatten mit einem grausam verzerrten Lächeln im Gesicht.
»Verdammt!«
Das Licht fiel auf die Blendläden, und die
Gestalt verschwand - möglicherweise nichts als eine Ausgeburt ihrer Fantasie.
Oder?
Sie wartete nicht ab, um das in Erfahrung zu
bringen, sondern drückte das Gaspedal durch und raste über den Asphalt,
gerade als sich der alte Mr. Van Pelt dazu entschloss, seinen uralten Panzer
von Buick rückwärts auf die Straße zu setzen. Jennifer stieg auf die Bremse,
schlitterte
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