Mercy-Thompson 03 - Spur der Nacht-retail-ok
vertraute. Die ganze Wahrheit, hm? Ich seufzte. »Das sagte er, aber ich war ziemlich sicher, wenn O’Donnell nicht eine sehr gute Geschichte zu erzählen hätte, würde er am Morgen nicht wieder aufwachen.«
Ihr Bleistift fiel scheppernd auf den Tisch.
»Sie wollen also behaupten, Zee sei zu O’Donnells Haus gegangen, um ihn umzubringen?«
Ich holte tief Luft. »Das werden Sie nicht verstehen. Sie kennen das Feenvolk nicht, nicht wirklich. Einen von ihnen ins Gefängnis zu stecken ist … unpraktisch. Erstens ist es verdammt schwierig. Es ist schwer genug, einen Menschen gefangen zu halten. Jemanden vom Feenvolk gefangen zu halten, wenn er nicht gefangen sein will, ist so gut wie unmöglich. Selbst ohne das wäre eine lebenslange Strafe ebenfalls vollkommen unpraktisch, denn sie können jahrhundertealt werden.« Oder noch viel älter, aber die Öffentlichkeit brauchte das nicht zu wissen. »Und wenn Sie sie gehen lassen, werden sie nicht einfach davon ausgehen, dass der Gerechtigkeit Genüge getan wurde. Das Feenvolk ist rachsüchtig. Wenn Sie einen von ihnen einsperren, aus welchem Grund auch immer, sollten Sie lieber tot sein, wenn er wieder rauskommt, oder Sie werden sich wünschen, dass Sie es wären. Menschliche Gerechtigkeit ist einfach nicht geeignet, um mit dem Feenvolk fertig zu werden, also kümmern sie sich selbst darum. Wenn einer von ihnen ein schweres Verbrechen begeht, wie Mord, wird er einfach sofort hingerichtet.« Die Werwölfe taten das Gleiche.
Sie kniff sich in ihre Nasenwurzel, so als hätte sie Kopfschmerzen.
»O’Donnell gehörte nicht zum Feenvolk. Er war ein Mensch.«
Ich dachte daran zu erklären, wieso es Wesen, die daran gewöhnt waren, ihre eigene Justiz auszuüben, ziemlich gleich war, ob der Täter ein Mensch war, kam aber zu dem Schluss, dass das sinnlos sein würde. »Tatsache bleibt, dass
Zee O’Donnell nicht umgebracht hat. Jemand ist ihm zuvorgekommen.«
Ihre ausdruckslose Miene wirkte nicht, als glaubte sie mir, also fragte ich: »Kennen Sie die Geschichte von Thomas dem Reimer?«
»Thomas der Reimer? Das ist ein Märchen«, sagte sie. »Ein Prototyp von Irvings ›Rip Van Winkle‹.«
»Äh«, begann ich zögernd, »tatsächlich denke ich, dass es sich überwiegend um eine wahre Geschichte handelt. Die von Thomas meine ich. Thomas war auf jeden Fall eine echte historische Person, ein bekannter Politiker des dreizehnten Jahrhunderts. Er behauptete, er sei sieben Jahre Gefangener der Feenkönigin gewesen, erst dann habe man ihm gestattet, zurückzukehren. Er bat die Feenkönigin entweder um ein Zeichen, das er seinen Verwandten zeigen konnte, damit sie ihm glauben würden, wenn er ihnen erzählte, wo er gewesen sei, oder er stahl ihr einen Kuss. Wie auch immer, er erhielt sein Geschenk, und wie die meisten Geschenke des Feenvolks war das eher ein Fluch als ein Segen – die Feenkönigin machte ihn unfähig zu lügen. Für einen Diplomaten, einen Liebhaber oder einen Geschäftsmann war das ein grausames Schicksal, aber das Feenvolk ist häufig grausam.«
»Was wollen Sie damit sagen?«
Sie klang eher bedrückt. Ich nehme an, sie hatte nicht gedacht, dass diese Art von Märchen wahr sein konnte. Auf diese Haltung stieß ich häufig.
Die Leute akzeptierten vielleicht, dass das Feenvolk existierte, aber die Märchen, die darüber berichtet wurden, waren für sie einfach nur Märchen. Nur Kinder würden sie für Tatsachenberichte halten.
Das war eine Haltung, die das Feenvolk unterstützte. In den meisten dieser Geschichten sind die Feenwesen nämlich nicht gerade freundlich. Zum Beispiel Hänsel und Gretel. Zee hatte mir einmal gesagt, dass es viele Leute im Reservat gab, die sich, wenn es ihnen überlassen wäre, gerne von Menschen ernähren würden – besonders von Kindern.
»Er wurde dazu verflucht, so wie das Feenvolk zu werden«, fuhr ich fort. »Die meisten Angehörigen des Feenvolks, Zee eingeschlossen, können nicht lügen. Sie sind zwar sehr, sehr gut darin, Sie glauben zu machen, dass sie etwas Bestimmtes gesagt haben, aber sie können nicht lügen.«
»Jeder kann lügen.«
Ich lächelte sie angespannt an. »Das Feenvolk nicht. Ich weiß nicht, warum das so ist. Sie können mit der Wahrheit die seltsamsten Dinge anstellen, aber sie können nicht lügen.« Ich seufzte unglücklich. Ich hatte versucht, eine Möglichkeit zu finden, Onkel Mike auszulassen, aber leider gab es keinen anderen Weg, diesen Teil zu erzählen. Ich musste sie überzeugen, dass
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