Meridian - Flüsternde Seelen
ruhig, mein Mädchen. Hier hast du einen Schluck Traubenlimonade.« Rumi schubste Tens vom Sofa. »Geh und nimm dich zusammen, Junge.« Sein Tonfall war zwar sanft, duldete aber keinen Widerspruch. Er sah mich an. »Du bist bei mir zu Hause, mein Engel. Hier kann dir nichts passieren.«
Tens marschierte den Flur entlang. Ich hörte eine Tür zufallen.
Ich setzte mich auf. Der kleine tragbare Fernseher war auf einen Nachrichtensender eingestellt und lief ohne Ton. Ein Reporter stand zwischen den qualmenden Ruinen, während Rettungskräfte und Ermittler um ihn herumwimmelten. Die offiziellen Fernsehbilder wurden durch Aufnahmen ergänzt, die offenbar aus den Mobiltelefonen und Kameras von Augenzeugen stammten. Es waren grausige und unerklärliche Szenen.
»Vorsichtig.« Rumi stützte mich.
»Was ist passiert?« Ich streckte mich. Meine Muskeln waren steif und schmerzten.
»Die Reporter sprechen von einem Terroranschlag. Einige Bomben auf Düngerbasis sind im Gedränge hochgegangen. Offenbar Selbstmordattentäter. Genug Sprengkraft, um überall auf dem Festplatz Feuer zu entfachen.«
»Brennt es noch?«
»Ja. Sie holen Tanklastzüge und schöpfen Wasser aus dem Wabash, um es vom Helikopter aus abzuwerfen. Doch die Stelle ist abgelegen und deshalb schwer zu erreichen.«
»Es sind Menschen gestorben.«
»Einige. Außerdem die Bombenleger. Viele werden noch vermisst.«
Es waren so viele Seelen durch mich hindurchgegangen. Hinzu kam, dass die Aternocti sicher auch ein paar erwischt hatten. Bestimmt hatten sie die Explosionen ausgelöst und dann die Energie der Sterbenden an sich gerissen.
»Einige Menschen haben großen Mut bewiesen und andere gerettet. Die historische Stätte selbst wurde nicht beschädigt. Vermutlich, weil die Aufführung noch nicht stattgefunden hat und niemand dort war.«
In meinem Gedächtnis war alles verschwommen. Aber ich glaubte, am Fenster auch Seelen gesehen zu haben, die nicht übergegangen waren. War es möglich, dass sie sich dem Fenster genähert hatten und dennoch ins Leben hatten zurückkehren können?
»Juliet?«
»Ich weiß nicht.« Rumi rieb sich die geschwollenen Augen. Sein Gesicht war von unzähligen kleinen Schnittwunden übersät.
»Wie geht es dir? Wie lange ist es her?«
»Etwa sieben Stunden. Bald bricht der Tag an.« Rumi stand mühsam auf, ohne meine andere Frage zu beantworten.
Ich bemerkte, dass seine Hose einen blutigen Riss hatte.
»Nur ein Kratzer. Dein junger Mann hat mich aus den Trümmern und Glasscherben ausgegraben. Ein Glück, dass mir nicht mehr passiert ist.«
Tens kehrte ins Wohnzimmer zurück. Sein Gesicht war frisch gewaschen und sein Haar nass, als hätte er den Kopf unter den Wasserhahn gehalten.
Als ich die Hand ausstreckte, verschränkte er die Finger mit meinen.
»Ich habe mir Sorgen gemacht«, flüsterte er.
Es klopfte an der Schiebetür. Die Gestalten waren schemenhaft und wegen des Lichtreflexes in der Scheibe nur schwer auszumachen. Rumi zuckte zusammen und wechselte einen Blick mit Tens, ehe ihnen beiden klarwurde, wer da geklopft hatte. Offenbar hatten die beiden während meiner Bewusstlosigkeit ein Gespräch geführt.
»Rumi? Bist du da?« Gus’ Stimme übertönte die von Faye, die forderte, die Tür aufzubrechen, um nach dem gemeinsamen Freund zu sehen.
Nachdem Tens und ich uns von unserem Schreck erholt hatten, öffnete Rumi die Tür. Bei jeder Bewegung schrien meine Muskeln auf. Sogar Anspannung tat weh.
»Ist alles in Ordnung? Kinder, wart ihr auch dort?« Faye eilte auf uns zu, um uns zu bemuttern.
»Ich konnte sie nicht dazu bringen, zu Hause zu bleiben«, entschuldigte sich Gus. »Sie ist von den Sirenen und vom Qualm aufgewacht, und wir wussten ja, dass du mittendrin warst.«
»Ich dachte, du wärst im Lager«, erwiderte Rumi.
Faye wirkte verlegen, aber erleichtert. »Wäre er auch gewesen. Doch ich hatte Kopfschmerzen, und er hat mich gepflegt.«
»Ein verdammtes Glück, diese Kopfschmerzen.« Gus grinste sie an.
»Die siehst zum Fürchten aus, Rumi.« Faye tätschelte mir die Hand, während sie Rumi betrachtete.
»Alles bestens, alles bestens.« Rumi sank blass in einen Sessel.
Ich schüttelte fast unmerklich den Kopf. Dass Rumis Gelassenheit offenbar allmählich von einem Schock abgelöst wurde, gefiel mir gar nicht.
Faye bemerkte meine Geste und stürzte sich darauf wie ein Hund auf einen saftigen Knochen. »Nein, das stimmt nicht. Wir bringen dich zum Arzt. Dein Bein blutet. Gus, hol das Auto.«
»Nein,
Weitere Kostenlose Bücher