Meridian - Flüsternde Seelen
sich um und lächelte freudig, als er mich bemerkte.
Ängstlich wich ich zurück und befürchtete im ersten Moment, einen schrecklichen und folgenschweren Fehler gemacht zu haben.
Als er mich hinter seinen Stand winkte, huschte ich rasch in das Versteck.
»Du bist heute Abend ziemlich mutig.« Rumi spähte um die Stoffbahn herum.
Ich brachte keinen Ton heraus.
»Vermutlich bist du hier, um deine Engel-Freundin zu sehen.«
Offenbar stand mir die Verwirrung ins Gesicht geschrieben, denn er hatte Mitleid mit mir und hörte auf, in Rätseln zu sprechen. »Meridian macht eine Arbeitspause und gönnt sich mit ihrem Schatz Tens etwas zu essen. Wenn du zwei Reihen weiter gehst, findest du sie unter den Bäumen. Sie wollen dir helfen. Also vertrau ihnen, falls du das kannst.« Er zeigte mit dem Finger. »Sie essen und trinken und tun mir zuliebe so, als machten sie sich keine Sorgen wegen des Bösen auf dieser Welt.«
Ich nickte und wandte mich in die Richtung, in die sein Finger wies.
»Moment, mein Kind.« Rumi holte Geld aus der Tasche. »Kauf dir auch etwas zu essen.«
»Nein, ich kann doch nicht …«
»Du fällst nicht so auf, wenn du wenigstens versuchst, so auszusehen, als hättest du Spaß.«
Ich trat vor und nahm das Geld an. »Danke. Ich zahle es Ihnen zurück.« Irgendwie.
Er zwinkerte mir zu und ging wieder nach vorn. Ich hörte, wie er Kunden die glücksbringende Eigenschaft der Geistersteine anpries.
Ich kaufte einen Hähnchenspieß und hatte solchen Hunger, dass er vertilgt war, bevor ich die nächste Bude erreichte.
Ich wurde schneller und hielt mir vor Augen, dass ich ja wegen der Antworten hier war, nicht um zu essen. Endlich entdeckte ich Tens, der, die Arme um Meridian gelegt, an einem Baum lehnte. Die beiden wiegten sich zur Musik.
Beim Näherkommen lüpfte ich den Rand meiner Haube, bis Tens Blickkontakt mit mir aufnahm und mir zunickte. Meridian bedeutete mir mit einer Kopfbewegung, ihr zu folgen. Wir spazierten weg von der Musik in Richtung Fort. Tens folgte uns in einem Schritt Abstand.
»Hast du meine Nachricht von gestern gekriegt?«, fragte sie schließlich, als wir uns weit genug von der Menschenmenge und der Bühne entfernt hatten, dass ein Gespräch in normaler Lautstärke möglich war.
»Heute früh. Bodie hat es mir erzählt. Stimmt es?«
Meridian ließ sich auf einem von mehreren Schaukelstühlen nieder, die unter den auslandenden Ästen eines alten Walnussbaums standen, und forderte mich auf, mich zu setzen.
Ich nahm neben ihr Platz, während Tens mit dem Rücken zum Baum stehen blieb und, die Hände tief in den Jackentaschen, die Leute beobachtete.
»Stimmt es?«, wiederholte ich.
Sie nickte. »Gewissermaßen.«
»Was soll das heißen? Du hast doch gesagt, du wüsstest die Antworten, wenn ich Fragen hätte, und jetzt frage ich.«
»Klar. Aber es ist kompliziert.«
»Entweder hast du meine Mutter getroffen oder nicht.« Meine Stimme wurde lauter.
»Habe ich.« Sie versuchte, mir in die Augen zu schauen, konnte es aber nicht und biss sich auf die Unterlippe.
»Wo ist sie?«, bohrte ich weiter.
»In Sicherheit.«
Ich stand auf. »Ich habe keine Lust auf Spielchen.«
»Das ist mir klar. Ich versuche es ja.« Sie wirkte verzweifelt. »Können wir nicht mit einer einfacheren Frage anfangen?«
»Kannst du mir erklären, warum man mich auf einem Foto nicht sieht?«
»Und das soll einfacher sein?« Tens schnaubte.
»Du bist wie ich. Wir sind verwandt.«
»Verwandt?« Wie Schwestern oder Cousinen?
»Mich sieht man auf Fotos auch nicht. Jedenfalls früher nicht. Das liegt daran, was und wer wir sind.«
»Wovon redest du?«
»Wir sind Fenestrae. Wir helfen Seelen, in den Himmel zu kommen. Wir sind das Licht, das sie wahrnehmen, wenn sie sterben.«
»Entweder spinnst du komplett, oder du erfindest das alles nur.« Ich erhob mich, wich zurück und drehte mich fluchtbereit um. Hatte ich mich dafür aus dem DG geschlichen und eine harte Bestrafung wegen Ungehorsams riskiert?
»Ich habe das nicht erfunden. Das ist auch der Grund, warum deine Mom gestorben ist.«
Ich blieb stehen, wandte mich aber nicht um.
Meridian folgte mir und senkte die Stimme. »Sie ist ums Leben gekommen, weil sie dich retten wollte. Ich bin ihr begegnet, als ich einer Seele geholfen habe, durch das Fenster zu gehen.«
Alle meine Hoffnungen waren auf einmal wie weggeblasen, und ich fühlte mich hilflos und leer. Einen Moment, nur einen winzigen Moment, hatte ich gehofft, dass meine Mom mich
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