Meridian - Flüsternde Seelen
geblieben und habe Handlangerarbeiten übernommen, um Geld für etwas zu essen und einen Schlafplatz zu verdienen. So habe ich mich weiter in Richtung Revelation und zu deiner Tante durchgeschlagen. Tyee hatte mir immer gepredigt, dass ich mich an sie wenden soll: ›Falls mir etwas zustößt, geh zu den Fulbrights in Revelation, Colorado.‹ Das war das Mantra seit meiner Ankunft am SeaTac-Flughafen.«
»Was ist mit Tyee geschehen?«
»Er ist tot.«
Das wusste ich. Ich legte Tens die andere Hand auf die Wange, um wenigstens einen Teil seines Schmerzes in mich aufzunehmen. »Das tut mir leid.« Ich wünschte, ich hätte genau gewusst, was vorgefallen war. Was hatte das alles zu bedeuten?
»Und irgendwann bist du bei meiner Tante angekommen, richtig?«
»Ja. Aber ich habe Jahre gebraucht. Im Rucksack war zwar Geld, aber nicht genug, um ein Flugticket zu kaufen oder offiziell mit der Bahn zu fahren. Und dann wurde das Geld auch noch gestohlen.« Er schüttelte den Kopf. »Ich glaube, ich versuche dir gerade zu erklären, dass ich weiß, wie es ist, niemanden zu haben. Keine Menschenseele. Niemanden, der mir ein Dach über dem Kopf geboten, mir etwas zu essen gegeben oder sich darum gekümmert hätte, ob ich zur Schule ging oder morgen noch lebte. Deshalb kann ich nicht zulassen, dass Juliet weiter glaubt, allein zu sein. Zu dir kann ich zurückkommen. Hier bist du bei Menschen, die dir helfen. Also weiß ich, dass es dir kurzfristig an nichts fehlen wird. Du bist so stark und tüchtig, was ich von ihr nicht behaupten kann. Ist das nicht der Grund, warum wir hier sind?«
Er hatte recht. Und das ärgerte mich. »Ich bin eifersüchtig.« Dieses Geständnis war ich ihm nach seiner herzzerreißenden Offenheit schuldig. Ich durfte nichts beschönigen und uns beiden nichts vormachen. Die Wahrheit war zwar nicht hübsch, aber eben die Wahrheit.
Er schüttelte den Kopf, beugte sich zu mir herüber und umfasste mein Gesicht mit der Handfläche. »Worauf?«, fragte er ungläubig.
»Auf sie. Darauf, dass du ihr helfen willst. Ich habe Angst, dich genauso zu verlieren wie alle anderen.«
»Meridian, du brauchst meine Hilfe nicht rund um die Uhr. Bist du nicht diejenige, die gesagt hat, dass wir nicht nur wegen unseres Schicksals ständig aneinanderkleben müssen?«
»Das war gelogen.«
»Nein, du hattest recht. Das Schicksal kann arrangierte Ehen erzeugen, aber keine Liebesbeziehung.«
»Was soll das heißen?«, fragte ich.
»Dass ich dich liebe, weil du du bist. Nicht wegen der Fenestrae, der Engel, der Schöpfer oder wegen Wölfen und Katzen. Ich liebe dich. Ich spüre sie nicht, Merry. Ich habe es immer wieder versucht, aber da ist nichts. Aber dein Herz kenne ich.« Er hielt inne, als suchte er nach den richtigen Worten. »Und trotzdem werde ich immer das Bedürfnis haben, für die Benachteiligten einzutreten.«
Ich schluckte und blinzelte. »Ich weiß. Das ist eines der Dinge, die ich an dir liebe.«
»Keine Ahnung, ob es an mir, meinen Erfahrungen oder etwas anderem liegt.«
»Vermutlich an allem zusammen.« Mir wurde leichter ums Herz. Ich versuchte, die Angst und den Drang, seine Motive in Frage zu stellen, loszulassen.
Er küsste mich sanft auf die Lippen. »Aber mir wäre es lieber, wenn wir es gemeinsam angehen würden. Seite an Seite. Partner. Schließlich müssen wir noch an deinem Ziel arbeiten. Doch du darfst mir jederzeit den Hintern retten.«
»Hoffentlich wird es nicht nötig.« Entspannt ließ ich mich in seine Umarmung sinken.
»Deshalb sind zwei Köpfe besser als einer.« Tens lächelte.
Ich erwiderte sein Lächeln und beugte mich dann zu seinem Mund vor. Der Kuss vertrieb alle Schatten aus meinem Herzen. Nun wusste ich, dass ich mich in allen Situationen, die das Leben mir vor die Füße werfen mochte, auf Tens verlassen konnte. Außerdem hatte ich nach seiner Beichte das Gefühl, dass er inzwischen bereit war, mir seine Geschichte, seine Verletzungen und das, was ihn belastete, anzuvertrauen. Zumindest einiges davon. Für den Augenblick war das genug.
Das Funkgerät in der Ecke gab ein Signal von sich.
Joi räusperte sich. »Ich glaube, ich bin erst beim letzten Akt in diese Geschichte eingestiegen. Jedenfalls haben wir Entwarnung. Jetzt können wir … wie heißt sie noch mal?«, sie drehte sich zu Tony um, »… retten gehen.«
»Juliet. Sie heißt Juliet. Sollen wir?« Er bot Joi den Arm, um sie zur Kellertür zu eskortieren.
»Ich möchte den Rest der Geschichte hören.« Sie
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