Meridian - Flüsternde Seelen
Äste. Trümmer wurden gegen das Haus geschleudert und prallten aufs Dach. Ich hörte, dass irgendwo unten klirrend ein Fenster zerbrach. Das Krachen umstürzender Bäume ließ den Boden erbeben. Über mir ertönte ein ohrenbetäubendes Dröhnen. Als ich erschrocken den Kopf hob, stelle ich fest, dass eine gewaltige Böe ein großes Stück vom Dach abgerissen hatte. Wind schlug mir ins Gesicht, und der Regen durchweichte meine Sachen bis auf die Haut. Da wusste ich, dass wir sterben würden. Jeden Moment würden wir in den Strudel des Tornados hineingesogen werden.
Enid rief etwas und stemmte sich mühsam gegen mich. Ich konnte nicht sagen, ob sie Angst hatte oder mir etwas mitteilen wollte. Zum Nachdenken war keine Zeit. Der Wind saugte mir die Luft aus der Lunge und machte es schwer, diesem Wirklichkeit gewordenen Alptraum durch ruhiges Durchatmen zu begegnen.
Ich hatte ein Knacken in den Ohren, aber ich hörte nichts bis auf einen herannahenden Zug. Einen riesigen, zornigen Zug, der pfeifend und auf Kollisionskurs geradewegs auf uns zukam. Ich lehnte Enid an die Wand, schützte ihren gebrechlichen Körper, so gut ich konnte, und betete verzweifelt für Bodie, Sema und Nicole.
Ein Geräusch neben mir sorgte dafür, dass ich suchend den Kopf hob. Aus den Schatten trat ein Mann, der aus Mitternacht und Stahl zu bestehen schien, und kam zielstrebig auf uns zu. Ich glaubte, meinen eigenen Schrei zu hören.
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Kapitel 39
O ben an der Treppe zu Jois Schutzkeller blieb Tens stehen.
»Nein!«, rief ich zu ihm hinauf. »Nein! Bleib hier!« Die Entschlossenheit stand ihm ins Gesicht geschrieben. Er wollte mich im Schutzkeller abliefern und Juliet suchen gehen.
»Komm, mein Junge.« Tony schob ihn weiter.
Ich wusste, dass Tens sich aus dem Griff des Mannes hätte befreien können. Er war stark genug, um sich loszureißen und davonzulaufen, wenn er es wirklich gewollt hätte. Doch er tat es nicht. Eigentlich hätte ich ihm dankbar sein sollen, weil er sich für mich entschieden hatte. Allerdings war ich nicht in sonderlich nachsichtiger Stimmung, sondern ziemlich sauer, weil er überhaupt mit dem Gedanken gespielt hatte, mich in einem Tornado alleinzulassen und sich um ein anderes Mädchen zu kümmern. Ganz gleich, ob Fenestra oder nicht.
Tens nahm mich beiseite und beugte sich über mein Ohr. »Merry, was ist, wenn sie Hilfe …«
Sein Atem streifte meine Wange und bewegte mein Haar.
Du gehörst mir!,
schrie mein Herz. Warum begriff er es einfach nicht? Warum fing er immer wieder damit an? »Du bist mein Wächter, Tens!«, rief ich. »Meiner.« Das hieß nicht, dass ich Juliet etwas Schlechtes wünschte. Wirklich nicht. Aber ich hatte schon so viel verloren und war deshalb nicht bereit, Tens kampflos aufzugeben. Ich ballte die Hände zu Fäusten, bis sich die Fingernägel in meine Handflächen gruben.
Ich tat so, als bemerkte ich nicht, wie Joi und Tony fragende Blicke wechselten.
»Das weiß ich«, flüsterte Tens. »Doch du bist hier in Sicherheit. Was, wenn ihr Gefahr droht?«
»Sie hat lange genug auf sich selbst aufgepasst.« Warum musste ich ihm das erklären? »Ich brauche dich.«
Tens nickte, doch seine steinerne Miene sorgte dafür, dass ich meine Worte bereute.
Sogar Jois Schutzkeller war mit fröhlichen Blümchenstoffen, Kissen, Lichterketten in Sonnenblumenform, Zuckerstangen und Cowboystiefeln dekoriert. Er erinnerte an das
Helios,
war aber viel gemütlicher: In diesen mit Kitsch überladenen Schuhkarton passten nur etwa zwölf Personen.
Der Hagel trommelte an die Tür wie eine panische Menschenmenge, die versuchte, sich Einlass zu verschaffen.
Trotz der Enge suchte Tens sich einen Platz möglichst weit weg von mir, verschränkte die Arme und presste die Lippen zusammen. Tony setzte sich neben ihn.
Joi schaute mit einem ratlosen Stirnrunzeln zwischen uns hin und her. Im nächsten Moment gingen die Lichter aus. »Rührt euch nicht.« Sie knipste eine Taschenlampe an und bewegte sich dann durch den Raum, um batteriebetriebene LED -Lampen einzuschalten.
Ich lehnte mich in die Kissen und versuchte, das Tosen des Weltuntergangs draußen auszublenden.
Joi breitete eine Fleecedecke über mich und tätschelte mir die Hand. Ausnahmsweise löcherte sie mich nicht mit Fragen.
»Danke«, murmelte ich.
Tony und Tens unterhielten sich leise. In Tens’ Stimme schwangen bedrückte Seufzer und harte Konsonanten mit, die von Tony war ruhig und gelassen.
»Hast du es ihr gesagt?«, hörte ich Tony
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