Meridian - Flüsternde Seelen
fragen.
Ich spitzte die Ohren, allerdings ohne die Augen zu öffnen.
»Nein. Wie denn?«
»Am besten erzählst du es ihr von Anfang an. Es könnte hilfreich sein.«
»Vielleicht«, erwiderte Tens.
Tony gab sich nicht so rasch geschlagen. »Versuch es.«
»Möchte jemand Suppe, Tee oder Kaffee?«, fragte Joi fröhlich.
»Nein danke«, antwortete Tony. »Was macht Ihre Familie bei diesem Sturm?«
»Ich bin sicher, dass alles in Ordnung ist.« Ihr Tonfall war dennoch ein wenig besorgt. Sie ging durch den Raum, schüttelte Kissen auf und rückte Nippes gerade.
»Wie lange müssen wir hier unten bleiben?«, erkundigte ich mich. Der einzige Tornado, den ich kannte, war der Sturm im
Zauberer von Oz,
und das war nicht unbedingt ein Dokumentarfilm.
Joi band die Schleifen an den Hälsen von Häschen und Teddys neu, sortierte die Teebeutel nach Geschmacksrichtung und griff dann nach einem Kartenspiel. »Bis das Funkgerät da in der Ecke Entwarnung gibt oder wir die Entwarnungssirenen hören. Gut, dass das Restaurant noch nicht geöffnet hatte, sonst wären noch mehr Leute hier unten.« Sie wirkte unruhig und schien Hüttenkoller zu haben. »Hat jemand Lust auf eine Partie Karten?«
»Klar. Ich bin dabei.« Ich zwang mich zu einem Lächeln und warf einen Blick auf Tens und Tony, die immer noch ins Gespräch vertieft waren.
Joi kramte in der Kiste mit den Gesellschaftsspielen und murmelte dabei die Namen von Kartenspielen vor sich hin.
Tens rutschte zu mir herüber. »Es tut mir leid.« Er verhielt sich zwar zielstrebig und direkt, schien aber zu zögern.
»Mir auch.« Ich leckte mir über die Lippen und schluckte, unsicher, wie ich meine Eifersucht erklären sollte. Wie fasste man die Angst vor dem Verlassenwerden in Worte?
»Ich muss dir zuerst etwas sagen.«
»Okay.« Ich wartete ab.
Tony und Joi setzten sich an einen kleinen Bistrotisch, der mit einigen Stühlen am anderen Ende des Raums stand. Mehr Privatsphäre konnten sie uns nicht geben, ohne den Keller zu verlassen.
Tens berührte mich zärtlich, aber schüchtern am Knie. »Bevor ich zu deiner Tante kam, habe ich bei Tyee in Seattle gewohnt. Aber das weißt du ja.«
Ich nickte.
»An dem Tag, als ich meinen Großvater das letzte Mal sah, hat er mich zu einem Freund gebracht. Dieser Freund war Polizist. Mein Großvater hat mir einen Rucksack und Geld gegeben, und dann ist er gegangen. Vorher hat er noch gesagt, ich solle den Rucksack aufmachen, wenn er bis morgen früh nicht zurück sei. Ich war elf. Plötzlich klopfte es laut an der Tür. Offenbar wusste der Polizist mehr als ich, denn er zog seine Pistole und wies mich an, meinen Rucksack zu nehmen. Ich sollte mich im Bad einschließen und noch irgendetwas vor die Tür schieben, damit sie schwerer zu öffnen sei. Ich dürfe erst wieder herauskommen, wenn er ›Blumenkohl‹ sagte.«
»Blumenkohl?«
»Damit ich nicht aufmachte, wenn er mich unter Druck darum bat. ›Blumenkohl‹ ist kein Wort, das einem zufällig herausrutscht, und es hält einem auch niemand eine Pistole an den Kopf, um einen zu zwingen, es auszusprechen.«
Ich nickte und stellte mir einen verängstigten kleinen Jungen vor, der keine Ahnung hatte, was gespielt wurde oder warum.
»Ich glaube, er hat die Eingangstür geöffnet. Ich hörte einen Kampf und Geschrei. Die Pistole ging los. Immer wieder. Dann herrschte Schweigen, und Stimmen riefen: ›Zwei erledigt, noch einer übrig.‹ Ein anderer brüllte, sie sollten den verdammten Jungen suchen.«
Ich griff nach seiner Hand.
Er drückte meine, sprach aber weiter, ohne innezuhalten. »Über der Badewanne war ein großes Fenster. Da man es nicht aufmachen konnte, habe ich mir ein Handtuch um den Arm gewickelt und es mit dem Ellbogen eingeschlagen, wie Tyee es mir beigebracht hatte. Er hatte mir gezeigt, wie man überlebte. Das Fenster zerbrach, und ich bin rausgesprungen. Ich bin die ganze Nacht gerannt. Ich bin gerannt, bis ich nicht mehr konnte.« Eine einzelne Träne rann ihm die Wange hinunter. »Zwei Tage lang habe ich mich unter einer Brücke versteckt, bis mich jemand gefunden und zum Jugendamt gebracht hat. Kinderheime. Jedes Mal, wenn ich weggelaufen bin, habe ich mehr über das Leben auf der Straße gelernt. Ich war absolut allein, Meridian. Da draußen gab es niemanden außer mir. Niemand hat auf mich aufgepasst. Es hat keinen Menschen interessiert, ob ich nach Hause kam oder ob ich einen Tornado überlebte. Ich bin meistens auf dem flachen Land und in den Bergen
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