Meridian - Flüsternde Seelen
Das hier ist Sklavenarbeit. Du bist eine Gefangene. Du solltest darüber nachdenken, was du werden willst, wenn du einmal erwachsen bist. Stattdessen überlegst du, wie du Sema dazu bringst, selbst aufs Töpfchen zu gehen, und dabei bist du noch keine sechzehn.«
Ich war schon längst kein Kind mehr. »Wir bekommen Heimunterricht.« Ich wünschte, ich hätte das glauben können. Inzwischen beherrschte ich das Nachplappern perfekt.
»Und wann soll dieser Unterricht stattgefunden haben? Ich habe noch nie ein Schulbuch in der Hand gehabt, Hausaufgaben gemacht oder einen Test geschrieben.«
Ich seufzte. »So läuft es hier eben.«
»Freiwillig?« Nicole schüttelte den Kopf und umklammerte meine Finger mit einem Schraubstockgriff.
Wir wussten beide, dass ich noch nie eine wirkliche Schule von innen gesehen hatte. In der Schule hier gab es keine Bücher. Kirian hatte mir das Lesen beigebracht. Ein älteres Mädchen, an dessen Gesicht ich mich nicht mehr erinnerte, hatte mir alles über Blümchen und Bienchen erklärt und mir gesagt, was ich tun müsse, wenn ich meine Tage bekäme. Die alten Gäste, die noch sprechen konnten, erteilten mir auch so manche Unterrichtsstunde. Geschichte. Kunst. Wie man Knöpfe annähte. Was man gegen Darmgrippe unternahm. In einem jahrzehntelangen Leben hatten sie Kenntnisse erworben, die sie gern weitergaben und von denen ich in einem Klassenzimmer nie etwas erfahren hätte.
Nicole blickte mich eindringlich an. »Ms. Asura ist kein guter Mensch. Sie verschließt die Augen vor den Zuständen hier, weil sie damit einverstanden ist. Sie will uns nicht helfen.«
»Was erwartest du von mir?«, fragte ich. Ich fühlte mich in jeglicher Hinsicht ohnmächtig. Wann hatte ich es aufgegeben, für unsere und meine eigenen Interessen zu kämpfen? Ich erkannte meine eigene Seele kaum wieder.
Anstelle einer Antwort bedachte Nicole mich mit einem vielsagenden Blick. Was konnte man schon groß tun? Gar nichts.
»Es könnte schlimmer sein. Wir könnten auf der Straße leben oder …«
Nicole brachte mich mit dem traurigsten Lächeln, das mir je untergekommen war, zum Verstummen. »Sei einfach vorsichtig. Wie kann sie nicht merken, was hier los ist? Überleg mal.« Nicole war noch nicht lange genug in diesem Heim, um zu resignieren. Zuerst wollte man es nicht wahrhaben, dann kamen Wut und panische Fluchtversuche, und schließlich fügte man sich und gab es auf. Ich hatte selbst die Phase der Resignation schon hinter mir gelassen und war ins Vakuum des Vergessens gefallen.
Bevor Ms. Asura ein neues Kind zu uns brachte, rief sie die Heimleiterin an und sprach mit ihr. Abgeholt wurden die Kinder stets in der Nacht. Als ich mich nach dem Grund erkundigte, antwortete Ms. Asura, nachts könne sich die menschliche Psyche besser auf Veränderungen einstellen. Wirklich? Die Aktionen sorgten dafür, dass wir anderen weinten, anstatt zu schlafen. Was sollte daran besser sein?
Schon vor Jahren hatte ich damit aufgehört, Ms. Asura von den Kindern und den tatsächlichen Verhältnissen im DG zu erzählen. Längst hatte ich verstanden, dass ich ganz auf mich allein gestellt war. Ich konnte die Strafen ertragen, doch die Kleinen, die Bodies und Semas dieser Welt, brauchten jemanden, der sich für sie einsetzte. Vielleicht sollte ich es ja wieder versuchen, um Nicole zu beweisen, dass die Heimleiterin und das Schicksal das einzig Böse auf der Welt waren.
Jeder von uns hatte zehn Minuten mit Ms. Asura, deren Vornamen niemand kannte. Ich wusste nichts über ihr Leben. Als ich jünger gewesen war, hatte ich versucht, sie besser kennenzulernen, aber sie wimmelte jede Frage geschickt ab, bis ich aufhörte, welche zu stellen. Sie hatte das unbestimmte Alter einer Erwachsenen. Ihre Finger waren mit glitzernden Ringen bedeckt, ihre Armbänder klapperten bei jeder Bewegung, ebenso wie die ziselierten silbernen Ohrringe, die ihr bis zu den Schultern reichten. Sie wechselte zwar die Kleidung, doch der Schmuck blieb unverändert. Ihr schwarz gefärbtes Haar stach hart von der blassen Haut ab, verlieh ihr aber eine Autorität, um die ich sie beneidete. Ihre Wangenknochen und ihre Nase waren absolut symmetrisch und zu perfekt, ihr Make-up makellos aufgetragen und stets aufgefrischt.
»Hallo, Liebes, wie geht es dir?« Sie legte ihr Notizbuch weg und umarmte mich, als hätte sie mich vermisst. Ich wollte so gern glauben, dass es sich so verhielt. Gleichzeitig mit ihren Armen schloss sich eine dezente Parfümwolke um mich, so
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