Meridian - Flüsternde Seelen
dass es mir die Kehle zuschnürte und ich ein Kitzeln im Hals spürte. Sie hielt mich so lange, dass ich mich am liebsten losgerissen hätte, und ihr Griff wurde fester, als wisse sie, wie unangenehm es mir war.
»Tut mir leid.« Sie lachte die Umarmung weg. »Du hast mir nur so gefehlt. Wir sollten mal shoppen gehen. Nur wir Mädchen.« Es war nicht das erste Mal, dass sie mir einen Ausflug versprach. Ich schwieg. »Erzähl mir alles. Wie fühlst du dich?«
Ich kauerte auf der Sofakante. »Gut.«
»Wie fühlst du dich wirklich, Juliet? Vergiss nicht, ich bin auf deiner Seite.«
Ich nickte. »Ich fühle mich …« Ich suchte nach dem Wort, dem, das sie meiner Ansicht nach hören wollte. »Prima.«
Sie atmete erleichtert auf. So, als ob jede andere Antwort nicht hinzunehmen gewesen wäre. »Und lernst du auch fleißig? Kommst du mit deinen Pflichten hier zurecht?«
»Äh … ich glaube, das läuft auch gut.«
Lernen?
Wann sollte ich denn bitte die Zeit zum Lernen finden? Und was? Wie man die Fugen zwischen den Fliesen reinigte und alten Leuten die Windeln wechselte? Wie man für Kinder kochte, und zwar mit einem Budget, das höchstens gereicht hätte, ein paarmal pro Woche ein Schwein zu füttern? Wie man mit drei oder bestenfalls fünf Stunden Schlaf überlebte? Diese Lektionen hatte ich tatsächlich gelernt. Und zwar ausgezeichnet.
Ms. Asura klopfte mit dem Bleistift aufs Notizbuch, als sei sie im Begriff, sich etwas aufzuschreiben, was sie allerdings nie tat. »Es ist sehr wichtig, dass du qualifiziert bist, dir eine Stelle zu suchen, wenn du achtzehn bist. Die Heimleiterin wird dir bestimmt eine Empfehlung schreiben, obwohl sie mir berichtet hat, dass du dich sträubst, ihren Anweisungen zu gehorchen. Ich höre nur sehr ungern, dass du deinen Teil der Abmachung nicht erfüllst, Juliet. Ich bin enttäuscht.« Sie zog einen Schmollmund.
Ich stammelte eine Entschuldigung, ohne zu wissen, wofür.
»Ich möchte einfach nur, dass du dein Bestes versuchst, einverstanden? Wir haben doch schon darüber gesprochen.«
Ich nickte.
»Da die unangenehmen Themen nun abgehakt sind, gibt es sonst noch etwas, über das du reden möchtest?« Sie streckte die Hand aus und tätschelte erst mein Bein, dann meinen Arm. Ich stellte mir vor, dass eine Mutter ihr Kind so ansah – interessiert, aufmerksam, voller Hoffnung.
Ich biss mir auf die Lippe und verschränkte die Hände. Sollte ich es riskieren? Sollte ich etwas sagen? Konnte sie mir wirklich helfen? »Na ja, Bodie fällt es schwer, sich einzugewöhnen. Ich mache mir Sorgen um ihn.«
Sie beugte sich stirnrunzelnd vor. »Ist etwas vorgefallen? Ist er krank, macht er ins Bett oder zündelt er?«
Ich erbleichte. An Zündeln hatte ich gar nicht gedacht, obwohl auch manchmal Kinder herkamen, die so etwas taten.
»Nein, nichts davon.« Ich erwähnte es nie, wenn ein Kind ins Bett machte, sondern wusch die Laken, weil es niemand zu erfahren brauchte. »Aber er hat Angst und fühlt sich einsam … Ich glaube, die Heimleiterin ist vielleicht … zu streng mit ihm.«
Sie griff in ihren Aktenkoffer und holte einen Stapel Formulare heraus. »Lass mich das richtige Formular für einen Bericht suchen.«
Ich schluckte. Panik stieg in meiner Kehle auf.
Sie hielt inne und musterte mich mit ernster Miene. »Du weißt, dass ich verpflichtet bin, alle deine Sorgen aufzuschreiben und sie deinem Vormund mitzuteilen. Außerdem muss ich eine Kopie des Berichts deiner und Bodies Akte beifügen. Je dicker die Akte ist, desto schwieriger wird es, ein Kind in einer Familie unterzubringen. Die Leute wollen keine Kinder, die Probleme und Ärger machen.« Sie verstummte, damit ihre Worte sich setzen konnten. »Also musst du dir sehr gut überlegen, was du mir sagst, damit es auch sicher die Wahrheit ist.«
Ihre Botschaft war unmissverständlich –
bestehe auf den Bericht und dein Leben wird zur Herausforderung. Oder du verzichtest und beißt die Zähne zusammen.
Ich würde ohnehin nicht mehr an eine Familie vermittelt werden, aber Bodie vielleicht schon. Konnten Nicole und ich ihn besser beschützen? Würden wir es schaffen, einen Puffer zwischen ihn und die Heimleiterin zu schieben? Wir mussten es versuchen. Eine Beschwerde war keine Alternative. »Müssen Sie es denn der Heimleiterin erzählen?«
»Wenn du melden möchtest, dass er misshandelt wird, ja.« Sie schien bedrückt, aber noch immer bereit, meine Schilderung zu Protokoll zu nehmen. Der Verwaltungsakt war ihr offenbar
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