Meridian - Flüsternde Seelen
Lachmaschine gestohlen hatte. Er wurde wieder still.
Hin und wieder sorgte ein vorbeifahrendes Auto für Hintergrundgeräusche. Leute gingen auf der Straße umher und riefen sich ab und zu einen Gruß zu. Autotüren fielen ins Schloss, Krähen krächzten, und Hunde bellten. Ich fühlte mich wie in einem Kokon, während die Welt draußen sich ohne uns weiterdrehte. Ich vermisste Sammys Streiche – seine albernen Grimassen und sein spontanes Gekicher. Und das Fangen und Versteckspielen.
Erst nachdem ich ihn verloren hatte, war mir klargeworden, wie abhängig ich davon gewesen war, dass er die Belastung ausglich, die die ständige Konfrontation mit dem Tod bedeutete. Ich brauchte in dieser Hinsicht Hilfe von Tens. Herumalbern, Flirten und Berührungen. Das hatte ich ihm erzählt, als wir uns in den Höhlen versteckt hatten. Es war ein gewaltiger Schritt für ihn, mir zu leichteren, entspannteren Momenten zu verhelfen. Doch das hier war keiner davon. Ich spürte, dass er darauf wartete, das ernste Gespräch zu führen, das mich verfolgte und über mir schwebte wie ein Damoklesschwert. »Danke, dass du mir heute nicht gesagt hast, ich würde es übertreiben«, brach ich das Schweigen.
»Gern geschehen.«
»Wie hat sie das nur gemacht?«, fragte ich.
»Wer? Was?«
»Tante Merry. Wie hat sie alles unter einen Hut gebracht? Charles, das Haus, ihre Steppdecken, eine Familie. Außerdem hat sie sich ehrenamtlich engagiert und war Krankenschwester. Ihr Leben hatte so viele verschiedene Facetten.«
»Deines etwa nicht?« Er beugte sich vor, um mir in die Augen zu sehen.
»So habe ich es nicht gemeint. Es ist ein Glück, dass ich dich habe. Das weiß ich.«
»Aber du willst auch den Rest? Jetzt sofort? Du vergleichst ein Leben, das einhundertsechs Jahre gedauert hat, mit deinen sechzehn. Glaubst du wirklich, sie hätte das alles von Anfang an gehabt?«
Guter Einwand. Natürlich nicht. Ich hielt den Mund.
»Mein Großvater war der Inbegriff eines Schamanen«, fuhr Tens fort. »Ein Ältester, jemand, an den sich die Leute wandten, wenn sie Rat brauchten. Unterweisung. Taten. Er warf nicht nur mit leeren Phrasen um sich, sondern krempelte die Ärmel hoch, nachdem er geredet hatte. Obwohl ich mich mein Leben lang bemühen werde, so zu werden wie er, werde ich es trotzdem nicht schaffen. Niemals.«
Ich stemmte mich hoch, bis nur noch wenige Zentimeter unsere Gesichter trennten. »Das stimmt nicht. Du bist etwas Besonderes. Du wirst werden wie er und noch mehr als das, weil du auf das Fundament aufbauen kannst, das er für dich gelegt hat.«
»Vielleicht. Aber eigentlich wollte ich dir nur erklären, dass du und ich nicht mehr tun können, als uns in diesem Moment möglich ist. Mit zusätzlichen Informationen können wir weitere Schritte unternehmen. Und wenn wir erst zu mehreren sind, haben wir die Möglichkeit, größere Entscheidungen zu fällen und wirklich etwas zu bewirken. Wir stehen noch ganz am Anfang, Merry.«
»Warum fühlt es sich dann so an, als ob ich mir die Normalität stehlen müsste?«
Seine Lippen zuckten. »Weil es so ist.«
Ich verdrehte die Augen, wohl wissend, dass er recht hatte. Wieder küsste ich ihn sanft auf Mund, Kinn und Wangen.
Die Küchenuhr piepste. Unser Abendessen war fertig. »Was denkst du gerade?«, fragte ich beim Essen. Als sich seine Miene verdüsterte, hakte ich nach. »Du hast heute geschuftet wie ein Besessener.«
»Ich hatte das Bedürfnis, mich zu bewegen und ins Schwitzen zu kommen.«
»Wie weit bist du gelaufen?« War er vor der Arbeit im Garten des
Helios
nicht stundenlang gejoggt? Was trieb ihn dazu, sich so zu schinden?
»Ein paar Stunden. Keine Ahnung. Aber …« Er hielt inne und verspeiste ein Stück Maisbrot, von dem der Honig tropfte.
Ich wusste, dass es das Beste war, ihn nicht zu bedrängen und mich in Geduld zu üben.
»Ich habe den Pfad durch die Schlucht genommen, der entlang des Wildcat Creek verläuft. Scheint ein Fahrradweg zu sein. Gepflegt und geteert.«
Ich nickte und leckte meinen Löffel ab. Wenn ich ständig den Mund voll hatte, konnte ich ihn nicht mit Fragen löchern.
»Auf die Zeit oder die Entfernung habe ich nicht geachtet. Ich war ziemlich schnell raus aus der Stadt und auf dem flachen Land. Riesige Felder und Wälder, keine Menschen. Nachdem ich meinen Rhythmus gefunden hatte, bin ich nur noch gerannt. Custos ist rechts zwischen mir und dem Bach gelaufen. Immer wieder ist sie über Baumstämme gesprungen oder hat Opossums und Ratten
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