Meridian - Flüsternde Seelen
beteiligte sich am Gespräch, während sie immer wieder die Schnauze in einen der vielen Maulwurfshügel steckte. »Joi sagt, sie sei nie im Haus gewesen. Das Personal käme kaum in die Stadt, und sie sei auch noch nie einem Patienten begegnet, der dort gesund geworden wäre. Sie nehmen hauptsächlich Bedürftige und Alleinstehende auf.«
»Es sieht aus, als hätten sie nicht einmal Strom.« Ich robbte ein Stück vorwärts. »Bist du sicher, dass es nicht leersteht?«
»Pssst.«
Wir zuckten zusammen und erstarrten vor Schreck darüber, plötzlich eine dritte Stimme zu hören.
»Hier oben.« Eine Kinderstimme ließ uns aufblicken.
Custos wedelte mit dem Schwanz, bearbeitete mit den Pfoten einen Baumstamm und spähte nach oben in die Krone.
»Du bist aber ein großes Hundchen.« Ein fröhliches Kichern wehte zu uns herunter.
Ich schaute ins Geäst über uns. »Hallo?«, fragte ich mit vor Angst zitternder Stimme. Ein kleiner Junge mit feuerroten Locken, der ein drei Nummern zu großes Sweatshirt mit dem Emblem der Colts und eine zu kleine Jeans trug, baumelte wie ein Affe an den dünnen Ästen. Er steckte die Zunge durch die Lücke, wo seine unteren Zähne gewesen waren, und grinste spitzbübisch.
»Ich heiße Bodie. Und ihr?«
Tens lehnte sich an den Baum und schob sich die Sonnenbrille auf die Stirn. »Was machst du da oben?«
»Ich verstecke mich. Die Heimleiterin will mich wieder mit dem Stock verhauen. Das ist unfair.« Er sagte das so gleichmütig, dass es mir die Sprache verschlug.
»Ich glaube nicht, dass sie das ernst gemeint hat …« Tens sah mich hilfesuchend an.
»O doch. Sie meint es immer ernst. Sie ist einfach fies und gemein.« Der kleine Junge rutschte den Baumstamm hinunter und ließ sich kichernd von Custos Gesicht, Nase und Ohren ablecken.
Nichts auf der Welt klingt so funkelnd und freudig wie das Lachen eines kleinen Kindes. Es krampfte mir das Herz zusammen. Er erinnerte mich so an Sammy, dass ich Sehnsucht nach meinem kleinen Bruder bekam.
»Warum beobachtet ihr uns?«, fragte Bodie mit der Unverblümtheit eines Kindes, das gezwungen war, zu schnell erwachsen zu werden.
»Das tun wir doch gar nicht.« Ich zupfte Tens am Ärmel. Wir setzten uns auf die Böschung der Wiese, damit uns vom Haus aus niemand bemerkte.
»Doch, tut ihr schon.« Bedrückt schüttelte Bodie den Kopf. »Niemand verrät mir etwas«, murmelte er. »Juliet nicht und ihr auch nicht. Ich bin kein Baby mehr.« Er zog einen protestierenden Schmollmund.
Tens klopfte auffordernd neben uns auf den Boden. »Kannst du ein Geheimnis bewahren?«
Als Custos Bodie mit der Schnauze zu uns hinüberschob, tätschelte er sie geistesabwesend und liebevoll. Nachdem er sich uns gegenübergesetzt hatte, lehnte sie sich an ihn. »Hmmm.« Sein Kopf wippte auf und nieder wie ein Angelköder in bewegtem Wasser. »Ich bin der beste Geheimnisbewahrer der Welt.«
»Wir beobachten euch wirklich. Du hast recht. Wir suchen ein Mädchen, das ist wie wir«, flüsterte Tens.
»Wie sieht sie denn aus? Was habt ihr vor? Seid ihr hier, um sie zu retten? Oder seid ihr sauer auf sie?« Interesse, Furcht, Neugier und Entschlossenheit zeichneten sich nacheinander in seinem Gesicht ab.
»Nein«, antwortete ich. »Wir wollen ihre Freunde sein. Und vielleicht, ja, ich glaube, retten wollen wir sie auch, aber …« Es schien ihn nicht zu stören, dass ich ins Stottern geriet.
»Willst du auch meine Freundin sein? Ich habe nicht viele Freunde.« Bodie krabbelte zu mir und ließ sich auf meinen Schoß fallen. Genau wie Sammy früher.
»Klar können wir Freunde sein.« Ich meinte es ernst. Die Erinnerung an meinen Bruder zog mir den Magen zusammen. Hätte auch er so einfach fremde Leute angesprochen? Wäre er ebenfalls so vertrauensselig?
»Könnt ihr mich adoptieren?« Bodie blickte zwischen mir und Tens hin und her. »Ihr seid doch alt genug, oder? Ich kann auch Mommy und Daddy zu euch sagen, wenn ihr wollt.« Seine Miene war ernst, und sein angespannter kleiner Körper verriet mir, wie wichtig es ihm war.
»Äh …« Tens richtete sich auf. Seine Miene war leicht verstört und panisch.
»Würden deine Eltern dich nicht vermissen?«, fragte ich in Bodies Locken hinein.
»Nein, sie haben mich hierhergebracht. Ich bin ein Pflegekind.« Er ließ die Schultern hängen und starrte zu Boden.
»Oh«, stammelte ich. »Sie hatten bestimmt einen wichtigen Grund.« Sobald mir die Worte über die Lippen kamen, hätte ich sie am liebsten
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